Die (halb)versteckten Wege und Paradoxien der verflochtenen deutsch-belgischen Erinnerungskultur

Auf dem Friedhof der Brüsseler Gemeinde Ixelles/Elsene befindet sich das Grab des 1942 in Belgien verstorbenen deutschen Schriftstellers und Dramaturgen Carl Sternheim. Es zieht, anders als das in der Nähe stehende Grabmal vom père des Lettres belges Charles De Coster, wenig Aufmerksamkeit auf sich. Allein der mit seiner Biographie vertraute Freundeskreis Sternheims mag dann und wann dem stillen Ort einen friedlichen Besuch abstatten. Sternheim hatte mit seiner Ehefrau Thea und den Kindern von 1913 bis 1918 in der prachtvollen Villa „Clairecolline“ im unweit von Brüssel situierten, traditionellen Ausflugsort La Hulpe gelebt – in unmittelbarer Nähe zu der großen Parkanlage, die der Chemiker, Unternehmer und Philanthrop Ernest Solvay dem belgischen Staat hinterlassen hat. Noch vor August 1914 konnten im kosmopolitischen Geist der „Welt von gestern“ die neuen Bewohner von „Clairecolline“ (der Name verdankt sich einer freien französischen Übersetzung des Ortsnamen Jasnaja Poljana, dem bekannten Wohnort Tolstois in Russland) ihr Haus zu einem Pol deutsch-belgischer Freundschaftsbeziehungen entwickeln.

- Von Prof. Dr. Hubert Roland (F.R.S.-FNRS, UCLouvain) -

 


Inhaltsverzeichnis


 

Das Gedächtnis eines Jahrhunderts (1910-2010)

Zu Gast waren etwa sowohl der Direktor des angesehenen Brüsseler Opernhauses Théâtre de la Monnaie, der überzeugte Wagnerianer Maurice Kufferath als auch der belgische Dichter Émile Verhaeren, der in diesen Jahren in den von Stefan Zweig initiierten deutschen Übersetzungen des Insel-Verlags sehr große Resonanz in Deutschland gefunden hatte. Nicht zuletzt befreundete man sich mit dem expressionistischen Dichter Ernst Stadler, der seit 1910 als Professor für Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Brüssel lehrte und im Rahmen seiner zu Hause stattfindenden Seminare die Texte des französischen Dichters Jules Laforgue mit denen von Stefan George verglich. Für seine eigene Dichtung ließ sich Stadler in seinem Gedicht Irrenhaus von einer benachbarten Anstalt für geistig verwirrte Menschen, Fort Jaco in Uccle (Brüssel) inspirieren, einem Sanatorium dessen innovative Methoden Stadler über den Leiter dieser Anstalt, dem Psychiater Auguste Lay entdeckt hatte.

Erst vor diesem besonderen Hintergrund ist das durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit dem rechtswidrigen Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien am 4. August 1914, den sich hieran anschließenden tragischen Gräueltaten gegen die belgische Zivilbevölkerung (Siehe hierzu diese Podcast-Folge auf Belgien.net) ausgelöste Trauma in seiner ganzen Schwere zu ermessen. Denn die bilateralen deutsch-belgischen Kulturbeziehungen hatten um die Jahrhundertwende und bis zu diesem Zeitpunkt offenbar einen Höhepunkt erreicht. Sie wirkten sogar wechselseitig, so dass die deutschsprachige Theaterwelt vom Nobelpreisträger Maurice Maeterlinck ebenso viel lernte wie die belgische historische Fachwissenschaft von der Lehrmethode im Format eines Seminars, das von Godefroid Kurth und Henri Pirenne aus Deutschland nach Belgien importiert worden war. Niemand hatte dieses abrupte und unerwartete Ende eines fruchtbaren Austauschs, der im Nachhinein nie mehr die gleiche Intensität wiedergefunden hat, erwünscht.

In ihren Tagebüchern betrauert, tief ergriffen, Thea Sternheim den Tod des am 30. Oktober 1914 bei Ypern durch eine Granate getöteten Stadler, der gegen die Armee seiner Studierenden kämpfen musste. Sie empört sich gegen das bekannte Manifest der 93 deutschen Wissenschaftler, Künstler und Intellektuellen, die jegliche Verantwortung Deutschlands bestreiten und sich der Kriegspropaganda unterwerfen. Sie stellt mit Bitterkeit fest, wie der Freund Émile Verhaeren, nachdem er in einer letzten großen Geste vermittelt hatte, dass „Clairecolline“ unter den Schutz des einflussreichen Solvay gestellt wurde, „rot gesehen“ hat und offene deutschfeindliche patriotische Kriegslyrik verfasste, in der vom unersättlichen Hunger des sadisme germain die Rede ist.

Die Villa Claire Colline, südlich von Brüssel (© Europeana, www.europeana.eu)

Verhaerens tödlicher Unfall im Bahnhof von Rouen am 27. November 1916 zerstörte abrupt jede Utopie einer möglichen Wiederaufnahme der Kontakte, auch mit Stefan Zweig und mit seinem Verleger Anton Kippenberg. Dieser war zu jenem Zeitpunkt bereits seit gut einem Jahr nach Flandern als Leiter einer Kriegszeitung versetzt worden und baute nun mit der Unterstützung von politisch-wirtschaftlichen Eliten wie dem Direktor der Essener Krupp-Werke Eberhard von Bodenhausen das Programm einer „flämischen Serie“ für den Insel-Verlag auf. Als kulturelles Begleitprogramm der „Flamenpolitik“ der Deutschen in Belgien ging es darum, „geistige Beziehungen“ mit Flandern zu aufzubauen (so Kippenberg in einem Brief an Bodenhausen) und in deutscher Übersetzung einen Querschnitt der flämischen Literaturgeschichte, von Vertretern der mittelalterlichen Mystik wie Jan van Ruysbroeck bis zu Autoren der Gegenwart wie Stijn Streuvels oder Felix Timmermans, zu liefern. Als stille Hommage an Verhaeren publizierte Kippenberg 1917 im Umfeld dieser flämischen Serie (also nicht in ihrem offiziellen Programm), die neueste Übersetzung des frankophonen Flamen Verhaeren Die wogende Saat/ Les blés mouvants, die vom jungen expressionistischen Dichter Paul Zech bereits im Juni 1914 druckfertig erstellt worden war , wegen des feindlichen Verhaltens von Verhaeren dann aber nicht publiziert wurde.

Die Titelseite von Verhaerens "Les blés mouvants", erschienen 1912 (© PD, http://gallica.bnf.fr/)

Alles deutet im Falle des Verlegers Kippenbergs auf einen schmerzhaften Loyalitätskonflikt zwischen seinem aufrichtigen Patriotismus und seinem langfristigen Engagement für eine weltoffene Literatur sowie für seine belgischen Partner und Freunde (dazu zählte noch der berühmte Bauhaus-Architekt Henry van de Velde), mit dem er durch ein europäisches Intellektuellennetzwerken eng verbunden war, hin. Das gleiche galt für Carl Sternheim, der unter dem Einfluss seiner Frau seinen deutschen Nationalismus zu Beginn des Krieges überwand und dann dezidiert im Sinne eines pazifistischen Humanismus handelte. Persönliche Verbindungen zur deutschen Zivilverwaltung wusste er 1917 zu nutzen, um die Bevölkerung von La Hulpe gegen die Gefahr des Abtransports der belgischen Arbeitslosen nach Deutschland zu schützen und um sich für die Befreiung des Chemikers Georges Hostelet, des Schwagers des Bürgermeisters von La Hulpe, einzusetzen. Hostelet war als einer der Mitangeklagten im Prozess von und um Edith Cavell zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Seine Begnadigung wurde dank Sternheim durch diplomatische Bemühungen, die letztendlich bis zu Kardinal von Hartmann hinaufreichten, erwirkt. Wie man sich vorstellen kann, war für die Sternheims die Stunde des Abschieds 1918 nicht friedlich, da sie sich im Klima der Ressentiments gegen alle Deutschen vollzog; als deutscher Besitz wurde „Clairecolline“ von den belgischen Behörden beschlagnahmt, der Bruch mit der einst geliebten Gegend war definitiv.

Seine produktivsten Jahre hatte Sternheim hinter sich, als er sich 1930 erneut in Brüssel niederließ, um dort zwölf weitere Jahre seines Lebens bis zu seinem Tod zu verbringen. Obwohl seine literarische und intellektuelle Ausstrahlung nicht mehr die vorherige Strahlkraft hatte, pflegte er umfangreiche Kontakte mit belgischen Künstlern, wie z.B. mit dem jüngeren Maler Marcel Hastir, der im Zweiten Weltkrieg zu einem berühmten Vertreter des belgischen Widerstands wurde. Im für Mal- und Zeichenkurse von den Deutschen genehmigten Atelier Hastirs in der Stadtmitte Brüssels (51 Rue du Commerce/ Handelsstraat) wurden junge jüdische Widerständler versteckt und propagandistische Flugblätter vervielfältigt. Hastir beteiligte sich an der bekannten Befreiungsaktion des 20. Judentransports von Mecheln nach Auschwitz am 19. April 1943. Eine 2005 gegründete Stiftung Marcel Hastir ist es gelungen, das Atelier, in dem der Künstler ununterbrochen bis zu seinem Tod lebte, als schutzwürdiges historisches und künstlerisches Erbe sowie als Veranstaltungszentrum anerkennen zu lassen. Möglicherweise spielten die Freunde und Vertrauten Hastirs eine Vermittlerrolle, als der 105 gewordene Hastir am 2. Juli 2011 im Grab von Carl Sternheim beigesetzt wurde.

Grab Sternheims in Ixelles/Elsene (© Hubert Roland)

Die Geschichte der gemeinsamen Grablegung von Sternheim und Hastir, die ersterer zeit seines Lebens nie vermutet hätte, ist viel mehr als eine rührende Anekdote. Sie gilt als diskreter aber realer Meilenstein einer verflochtenen deutsch-belgischen Erinnerungskultur über zwei Weltkriege und Besetzungen Belgiens hinaus, die jenseits der politischen Beziehungen und des wirtschaftlichen Austauschs von wichtigen kulturellen und zivilgesellschaftlichen Akteuren verantwortungsvoll gepflegt wird. Solche Initiativen würden zweifelsohne eine bessere Sichtbarkeit verdienen, wenn man in beiden Ländern die mangelnden Kenntnisse über das Nachbarland, die von den offiziellen Kreisen oft festgestellt wird, in Zukunft stärker Rechnung trägt. Denn sie belegen die tief verwurzelte Grundlage des deutsch-belgischen Kulturdialogs.

Die politische Relevanz dieses Klimas eines wechselseitigen Vertrauens sollte nicht unterschätzt werden, denn es verweist auf einen möglichen Erklärungsansatz für die rasche diplomatische Versöhnung zwischen Belgien und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Tatsächlich wurde Belgien (mit Dänemark) 1951 das erste Land, welches mit der Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen aufnahm. Kurz darauf, 1956, unterzeichneten dann die beiden Außenminister Paul-Henri Spaak und Heinrich von Brentano in Brüssel einen deutsch-belgischen Ausgleichsvertrag, in dem somit schnell eine Regelung für die wichtigsten belgisch-deutschen Fragen wie etwa den Grenzverlauf zwischen Belgien und der Bundesrepublik – eine umstrittene Frage seit der 1920 vom Versailler Vertrag festgelegten Abtretung des Gebiets von Eupen-Malmedy gefunden worden war. Aus heutiger Sicht ist weiterhin bemerkenswert, wie innerhalb von fünfzig Jahren die seit ihrem Entstehen und bis zu den Jahren nach 1945 menschlich sehr akute „ostbelgische Frage“ der Zukunft der deutschsprachigen Bevölkerung in Belgien, der die belgische Nationalität in besonders unruhigen Zeiten schlicht auferlegt worden war, politisch durch die volle Integration in die Strukturen des belgischen Föderalsystem gelöst wurde.

Weitere kulturhistorische Grundlagen: von 1830 bis 1945

Die Wege des deutsch-belgischen kulturellen und intellektuellen Austauschs sind seit der belgischen Staatsgründung zahlreich. Bemerkenswert ist, dass sie sich nach 1830 und bis zum Ersten Weltkrieg erst vor dem Hintergrund des deutsch-französischen Antagonismus und des europäischen Gleichgewichts verstehen lassen (während sie sich im Gegenteil nach 1945 der positiven Rekonstruktionsarbeit der deutsch-französischen Freundschaft anschlossen). Auf belgischer Seite wirkte im Laufe des langen 19. Jahrhunderts die Idee einer „belgischen Seele“ (l’âme belge wie der maßgebende Intellektuelle Edmond Picard sie definierte)  als romanisch-germanische Kultursynthese identitätsstiftend, ein Grund, weshalb man für deutsche Einflüsse besonders offen war.

Auf deutscher Seite blieb man nach den napoleonischen Eroberungskriegen extrem misstrauisch gegenüber der Tatsache, dass die belgische Nation, auch in Flandern, trotz sprachlicher und kultureller Diversität auf allen Ebenen der Gesellschaft das Französische als einzige Bildungssprache geltend machte. Diese Tatsache empfand die entstehende Flämische Bewegung zu Recht als Ausdruck einer Diskriminierung, die sich unter anderem auf den Gebieten des Gerichts- und Unterrichtswesen, der Justiz und Verwaltung usw.  bemerkbar machte.

In einem wenig bekannten Text über die französische Julirevolution 1830 wollte (der ungenügend informierte) Heinrich Heine die entsprechende „belgische Rebellion“ nicht ernst nehmen und betrachtete sie als versteckte Manipulation von konservativen französischsprachigen Kräften. Später erweckte dann vor allem die „flämische Frage“ als soziale Frage Mitleid und Interesse von angesehenen deutschen kulturellen Eliten, so z.B. von den Philologen Jacob Grimm und vor allem von Hoffmann von Fallersleben, dem Verfasser von Horae Belgicae, der Reisen nach Belgien unternahm, um die Flämische Bewegung zu unterstützen.

Zwischen deutschen und flämischen Intellektuellen kam es zu interessanten Wechselbeziehungen. Die Flamen ließen sich eindeutig vom deutschen romantischen Vorbild inspirieren und orientierten sich im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielfach an der Arbeit deutscher Philologen und Verlage. Sie sammelten flämische Volkslieder, gaben mittelniederländische Werke heraus, untersuchten die flämische Literaturgeschichte, analysierten die flämische Sprache und ihre Vorgeschichte. Aber auch die Deutschen haben sich laut verherrlichenden romantischen Vorstellungen für den „reinen“‚ „ursprünglichen“ Charakter der niederländischen Sprache und Poesie stark interessiert und waren ebenso dazu bereit, von den flämischen Kollegen zu lernen. Unverkennbar ist, dass politische Motive in diesem Vermittlungsprozess eine Rolle gespielt haben. Im Grunde genommen wurde dem „kleinen (flämischen) germanischen Bruder“ – so wurde es auf deutscher Seite nicht selten wahrgenommen – die Schirmherrschaft der größeren Kulturnation angeboten, um ihn gegen die französischen Einflüsse zu „schützen“ bzw. um diese im belgischen Grenzgebiet einzudämmern. Im Reisebericht von Luise von Ploennies über Belgien kommt ein solcher kulturpolitischer Sendungsauftrag zum Ausdruck, als sie zum Beispiel meint, dass sich das flämische Theater an Deutschland orientieren solle: „Warum sorgt man nicht vor allen Dingen dafür, dass von der flämischen Bühne der französische Geist verschwinde? Warum wenden sich die Dichter, wenn sie sich nicht selbst zum dramatischen Schaffen berufen fühlen, nicht nach Deutschland, und versetzen die besseren Erzeugnisse der deutsch-dramatischen Muse auf den verwandten nachbarlichen Boden?“ (Ploennies 1845, S. 76–77)

Die belgische französischsprachige Kulturwelt pflegte ihrerseits im 19. Jahrhundert parallele Verbindungen, die im Zuge der europäischen Ausstrahlung von Madame de Staëls Essay De l’Allemagne (1810/1813) in einer Idealisierung des Landes der Dichter und Denker mündete. Die Begeisterung für Goethe, Schiller und Heine sowie für die musikalische Tradition, die sich von Beethoven und Schubert bis zu Wagner reichte, kristallisierte sich in Belgien, wie auch in Frankreich, paradoxerweise besonders deutlich nach dem preußisch-französischen Krieg von 1870 heraus. Wie Claude Digeon in seinem Standardwerk La crise allemande de la pensée française analysiert hat, wurde die Niederlage als ein gesellschaftliches Phänomen interpretiert, so dass diese Deutschfreundlichkeit von der Anschauung geleitet war, dass man „vom Feinde lernen musste“ und in diesem Sinne eine Inspirationsquelle etwa im deutschen Bildungsmodell finden sollte. Der Transfer von deutscher Wissenschaft wie etwa die an der Universität Brüssel gelehrte Philosophie von Karl Christian Friedrich Krause oder die direkte Berufung von deutschen Universitätsdozenten und -professoren wie Stadler und vielen anderen an belgische Universitäten sorgten für eine dauerhafte Präsenz des deutschen Gedankenguts und für die Hochachtung des Paradigmas der Klassik und Romantik in Belgien.

Einfluss des Krieges

Diese engen Kulturverflechtungen brachen wie gesagt von einem Tag auf den anderen im August 1914 zusammen. Von der Erschütterung des Ersten Weltkriegs hat sich die gesamte belgische Zivilgesellschaft, wie oben erklärt, nie ganz erholt. Vorherrschend waren in der Zwischenkriegszeit Gefühle des Zorns und des Ressentiments gegenüber den Deutschen. Als Carl Sternheim während seines zweiten Aufenthalts in Belgien anlässlich eines Ausflugs in „Clairecolline“ vorbeischauen wollte und an der Tür des Hauses klingelte, wurde er von der dort lebenden Baronin Emma Janssen kühl empfangen. Erst im Nachhinein, wie mir Frau Janssen Mitte der 1990er Jahre bei einem persönlichen Besuch erklärte, erfuhr sie, wie sehr sich die Sternheims für die Bevölkerung von La Hulpe im Ersten Weltkrieg verhalten hatten, woraufhin sie ihr damaliges Verhalten gegenüber Sternheim sehr bedauerte.

In der Phase des mühsamen Wiederaufbaus eines belgisch-deutschen Dialogs in der Zwischenkriegszeit sind diverse Initiativen für eine tiefgreifende Versöhnung hervorzuheben. Hierzu zählen u.a. die ziemlich gewagte, von der Bewegung eines théâtre prolétarien in Brüssel verwirklichte Aufführung des Stücks Hinkemann des expressionistischen Schriftstellers Ernst Toller im Dezember 1927. Die lebendige Darstellung des verstümmelten deutschen Kriegsheimkehrers Hinkemann, dem seine Genitalien weggeschossen wurden, auf der Bühne signalisierte eindrücklich, wie der belgische Kriegsarzt und Schriftsteller Max Deauville in einem Bericht schrieb, dass das Mitleid mit allen Opfern von Nationalismen und Ideologien das Gebot der Stunde sein musste.

Ebenso verdienstvoll waren die vielen Zeugnisse der Solidaritätserklärung mit deutschen Exilanten, die nach Hitlers Machtübernahme in Belgien Zuflucht gefunden hatten und in besonders prekären Verhältnissen lebten. Im Januar-Februar 1936 hielt der pazifistische Schriftsteller Ernst Friedrich, der Autor von Krieg dem Kriege, Dichterlesungen und Vorträge im Brüsseler Palais des Beaux-Arts und erhielt von belgischen Gewerkschaften Unterstützung für eine Wiedererrichtung eines Anti-Kriegsmuseums in Brüssel, das die Nationalsozialisten zerstört hatten. Im Palais, der weiter zum Foyer des humanistisch-engagierten Deutschlands wurde, las Friedrich unter anderem Szenen aus Ernst Tollers Hinkemann.

Das 1924 erschienene Werk des Antimilitaristen Ernst Friedrich

Die Unterstützung der Exilanten war eine Haltung, die in Belgien nicht einfach zu vertreten war. Sie stellt lediglich eine Stimme innerhalb einer sehr gespaltenen öffentlichen Meinung dar, in der sich viele gegensätzliche Positionen über das umstrittene nationalsozialistische Regime vernehmen ließen. Eine vom späteren deutschen Botschafter in Paris Otto Abetz initiierte „Friedenspropaganda“ zur légation d’Allemagne in Belgien instrumentalisierte eine deutsch-französische Gesellschaft, die sich, getragen von einem aufrichtigen europäischen Engagement, vehement für die Wiederherstellung von positiven Beziehungen zwischen beiden Ländern einsetzte. Der Zweck dieser geheimen Propagandaaktion bestand darin, auch bei der jüngeren Generation in Belgien Sympathien für das Modell der neuen nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ zu wecken. Kontakte von jungen Belgiern mit „der deutschen Jugend“ wurden unter anderem im Rahmen einer „Studienreise“ und wiederholter Treffen gefördert, eine Strategie, die das nationalsozialistische Regime attraktiv machen sollte und dazu führte, dass seine Gefahren im Nachbarland Belgien unterschätzt wurde.

Über diese Treffen berichtete der spätere Schriftsteller Henry Bauchau in der sozial-christlichen Zeitschrift La Cité chrétienne 1938 und meinte hierzu etwas naiv, dass hier für Belgien eine Gelegenheit liege, seine Mittlerfunktion zwischen latinité und Germanie wieder aufzunehmen, um im neuen politischen Zusammenhang den neuen europäischen Geist zu verkörpern. Ohne dass man genau weiß, ob sie den Nationalsozialismus kurz vor oder nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs offen unterstützten, vertraten spätere Protagonisten der politischen Kollaboration wie Raymond De Becker, Pierre Daye oder der sozialistische Minister Henri de Man ebenfalls diese Position. Der Neffe des letzteren war der international anerkannte Universitätsprofessor und Literaturkritiker Paul de Man, der nach dem Krieg den Weg des Exils in die USA fand. Er erklärte in der gleichgeschalteten belgischen Presse der Okkupation – mit unübersehbaren antisemitischen Akzenten – wie die belgische Literatur französischer und flämischer Sprache sich am Geist der deutschen Literatur seit der Romantik regenerieren könne.

Zu den jüdischen Bekannten Paul de Mans, der aus diesen Gründen die Kontakte mit ihm abgebrochen hat, zählte der spätere Professor der politischen Philosophie und Soziologie der Universität Brüssel (ULB) Georges Goriely, der einer der wenigen Anwesenden bei der Beerdigung Sternheims in Ixelles am 5. November 1942 war. Wie der 1933 nach Belgien emigrierte, deutsche Journalist Kurt Grünebaum, der sehr früh und bis zu seinem Tod 1988 für die ostbelgische Zeitung Grenz-Echo (wie auch nach dem Krieg für die belgische französischsprachige Presse) schrieb, gehört er du den wichtigen Mittlerfiguren, die die Kontinuitäten des verflochtenen deutsch-belgischen kulturellen Gedächtnisses aufgebaut und die Konsolidierung einer starken bilateralen Achse im Herzen des europäischen Vereinigungsprozesses verstärkt haben.

- Von Prof. Dr. Hubert Roland (F.R.S.-FNRS, UCLouvain) -

 

Literaturliste

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