Nostalgischer Blick zurück – Kongolesische Musik
— Von Hauke Dorsch und Clémentine Nkongolo, Mainz —
Inhaltsverzeichnis
- Von der frühen Kongo-Rumba zum Indépendance Cha Cha
- Authenticité und die goldene Ära der Rumba
- Soukous und die Ära der World Music
- Die nouvelle génération seit den 1990er Jahren
- Le jour d’après – Die ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts
- Anmerkungen
- Quellenverzeichnis
J'ai repris cette chanson fédératrice - Symbole de la crédulité de nos prémices
Entre indépendance et armistice - Mais pour que nos démocraties progressent
Faut qu'elle apprennent de leurs erreurs de jeunesse
Mon pays est un continent émergent - Bâti en moins de 50 ans
Ich habe dieses verbindende Lied aufgenommen
Symbol der Gutgläubigkeit unserer Anfänge
Zwischen Unabhängigkeit und Waffenstillstand
Aber damit unsere Demokratien vorankommen
Müssen sie aus ihren Jugendsünden lernen
Meine Heimat ist ein aufstrebender Kontinent
Erbaut in weniger als 50 Jahren
Aus: Baloji „Le Jour d'Après / Siku Ya Baadaye (Indépendance Cha Cha)“ 2010
Abstract
Dass der belgische, in Lubumbashi geborene Rapper im Jahr 2010 mit einer Neuauflage des „Indépendance Cha Cha“ die aktuelle Situation im Kongo kritisiert, deutet nicht nur auf ein ausgesprochen starkes politisches und historisches Bewusstsein, sondern auch auf seine Wertschätzung musikalischer Tradition, die viele kongolesische Musiker*innen an den Tag legen. Im zitierten Stück beklagt er die nicht eingehaltenen Versprechen der Unabhängigkeit, beklagt den andauernden Krieg, die Korruption, die staatliche Ineffektivität – zugleich nimmt er aber das berühmteste Stück der kongolesischen Musikgeschichte neu auf und erinnert so an eine Zeit, die von vielen als das goldene Zeitalter der kongolesischen Musik erinnert wird.
Eine hier nun folgende Darstellung der Geschichte kongolesischer Musik muss notgedrungen auswählen und verkürzen. Auf dieser Seite, die sich mit Belgien befasst, soll daher der Bezug nach Belgien und in den Globalen Norden besonders im Mittelpunkt stehen. Insofern nehmen besonders die Kolonialzeit und die Ära unmittelbar nach der Unabhängigkeit, aber auch die Hochphase der World Music, als kongolesische Musik global besonders verbreitet war, viel Raum ein.
I. Von der frühen Kongo-Rumba zum Indépendance Cha Cha
Die moderne kongolesische Musik entstand noch in der Kolonialzeit. Ab den 1930er Jahren wurde karibische und dabei besonders kubanische Musik sowohl im belgischen als auch im französischen Kongo und deren Nachbarländern gehört und gespielt. Die Kongo-Rumba wurde dabei weniger durch die kubanische Rumba als andere Stile oder Tänze, wie Mambo oder Cha-Cha-Cha, geprägt. Die Zwillingshauptstädte an beiden Ufern des Kongoflusses, Léopoldville (heute: Kinshasa) und Brazzaville, waren bereits in der Kolonialzeit Schmelztiegel unterschiedlichster kultureller Einflüsse. Französische und belgische Kolonialbeamte, Missionare und Geschäftsleute aus den unterschiedlichsten europäischen und afrikanischen Ländern, westafrikanische Seeleute und Arbeitsmigranten, auch karibische Seeleute – sie alle brachten ihre verschiedenen musikalischen (und anderen) Vorlieben und im Besonderen ihre Schallplatten an den Kongofluss. Durch diesen Kontakt zur kubanischen sowie zur westafrikanischen Musik, besonders der Gold Coast (heute: Ghana) wurde zu deren Musikstilen, aber auch zu Jazz, Polka, Walzer und Mazurka getanzt. Die moderne kongolesische Musik ist eine Synthese all dieser Stile und einiger Bestandteile der traditionellen kongolesischen Musik, die sich harmonisch und rhythmisch und mit moderner Orchestration dem städtischen Geschmack des 20. Jahrhunderts angepasst wurde. Léopoldville bzw. Kinshasa war dabei nicht nur Wiege der modernen kongolesischen Musik, sondern ist abgesehen von den Themen „Liebe“ und „Leidenschaft“ auch eines der zentralen Motive ihrer Texte.[1] Besonders die lateinamerikanische Musik wurde hier und in anderen afrikanischen Kolonien bald zu einer urbanen, kosmopolitischen Form afrikanischer Musik mit durchaus elitärem Anspruch. Erst in den Dekaden nach der Unabhängigkeit wurde aus diesen Stilen wahrhaft populäre Musik, die breite Bevölkerungsschichten erreichte.[2]
Prägend für diese Epoche war der Gitarrist und Sänger Wendo Kolosoy Antoine, genannt Papa Wendo (1925-2008), der als Ahnherr der modernen kongolesischen Musik gilt. Wendo kam früh wegen seiner Liedtexte in Konflikt mit der katholischen Kirche, besonders wegen seines großen Hits „Marie-Louise“. Er gründete in den 1940er Jahren seine eigene Band, bereiste bereits in den 1950er Jahren afrikanische und auch europäische Länder sowie die USA. Während Wendo mit Patrice Lumumba noch sympathisierte, führte Joseph Désiré Mobutus Putsch zu seiner politischen Desillusionierung und zum Rückzug von der Bühne bis 1997. Anfang der 1950er Jahre formierten sich die ersten auf Unabhängigkeit von Belgien abzielenden politischen Bewegungen zeitgleich mit den großen Orchestern in den urbanen Zentren mit der Gründung der bekannten Orchester African Jazz im Jahr 1953 durch Kabasele Joseph, auch Kallé Jeef oder Grand Kallé genannt, und OK Jazz im Jahr 1956 u.a. durch Franco Luambo Makiadi. Die beiden Gruppen revolutionierten die moderne kongolesische Musik.
An der Table Ronde in Brüssel, die das politische Schicksal des Belgisch-Kongo 1959/60 am Vorabend der Unabhängigkeit bestimmen sollte, war Kallés African Jazz anwesend; deren hierbei komponiertes Stück „Indépendance Cha Cha“ zur inoffiziellen Nationalhymne der DR Kongo geworden ist. „Indépendance Cha Cha“ wurde als der erste panafrikanische Hit bezeichnet, der die Euphorie des Augenblicks für den gesamten Kontinent ausdrückte.[3] Monsengo Vantibah zitiert den Text und bietet eine französischer Übersetzung:
Indépendence cha-cha Tozui e – O Kimfwanza cha-cha tuba kidi – O Table Ronde cha-cha bagagner o – O dipenda cha-ch tozui e. Asoreco na Abako – Bayokani moto moko – Na Conakat na Cartel – Balingani ne Front commun – Bolikango, Kasavubu – Mpe Lumumba na Kalonji – Bolya, Tshombe, Kamitatu – O Esanfu, Mbuta Kanza – Ta MNC na Ugeco – Abazi na PDC – Na PSA, African Jazz – Na Table Ronde mpe bagagner
Nous avons l’indépendance – Nous avons l’indépendance – Ils ont gagné à ola Table Ronde – Et nous avons l’indépendance. L’Asoreco et l’Abako, Se sont compris comme un seul homme – La Conakat et le Cartel – Se sont ligués en un front commun – Bolikango, Kasavubu – Lumumba et Kalonji – Bolya, Tshombe, Kamitatu – Esandja et l’honorable Kanza – Le MNC et l’Ugeco.[4]
Grand Kallé - Indépendance Cha Cha (audio)
Das Stück erzählt nicht nur vom Runden Tisch, an dem die Einigung zwischen belgischen Autoritäten und kongolesischen Repräsentanten über das Procedere des Unabhängigkeitsprozesses erzielt wurde. Seine musikalische, karibisch anmutende Leichtigkeit lässt auch die Euphorie des Moments erspüren, die Hoffnung auf die Gestaltung einer freieren Gesellschaft. Aus der Retrospektive bekommt das Stück allerdings einen bitteren Nachgeschmack, wenn der Hoffnungsträger der Unabhängigkeitsbewegung, Patrice Lumumba, und sein Rivale Kasavubu in einer Zeile besungen werden. Auf diese Weise erzählt kongolesische Musik – noch unbewusst – auch von enttäuschten Hoffnungen, von der brutalen Politik des Kalten Krieges und von machtverliebten Potentaten, die dafür sorgten, dass die von der belgischen Kolonialmacht verübten, als ‚Kongogräuel‘ in die Geschichte eingegangenen Gewalttaten keine historische Ausnahme blieben.
Es mag überraschend erscheinen, dass ausgerechnet kubanische Musik als Ausdruck der Unabhängigkeitsära erscheint. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, wie stark lateinamerikanische Musik selbst wiederum auf afrikanischer Rhythmik basiert. Dessen waren und sind sich die afrikanischen Musiker*innen und Hörer*innen bewusst.[5] Man konnte sie als moderne Form afrikanischer Musik verstehen. Darüber hinaus spielten sicherlich Ideen von einer gemeinsamen Identität als Bewohner des Globalen Südens eine Rolle. Mit diesem Selbstbild konnte man sich sowohl vom Norden als auch von dem von den Kolonisator*innen verbreiteten Bild angeblicher afrikanischer Rückschrittlichkeit abgrenzen. Dennoch ist es nicht frei von einer gewissen Ironie, dass lateinamerikanisch geprägte Musik in Mobutus Zaire den Soundtrack zur von der Regierung dekretierten afrikanischen authenticité lieferte.
II. Authenticité und die goldene Ära der Rumba
Im November 1965 ergriff Mobutu die Macht in der DR Kongo. Die Musik drückte das Leiden der Bevölkerung in der Sprache der Straße aus: „Lipanda“ (die ‚Unabhängigkeit‘) hatte die Situation für einen Großteil der Kongolesen nicht verbessert. Trotz der Begeisterung für den Twist und andere amerikanische Tänze blieb in der DR Kongo die Rumba weiterhin neben Cha-Cha-Cha, Boucher und Kiri kiri der beliebteste Tanz[6]. Franco Luambo Makiadi und Pascal Tabu Ley Rochereau gelten als die größten Musiker dieser Periode. Mit der Diktatur Mobutus und dem von ihm etablierten Einparteiensystem stieg der Druck auf Musiker*innen. Einige, wie der erwähnte Papa Wendo, zogen sich zurück, andere wie etwa Franco versuchten sich mit dem Regime zu arrangieren und dabei zugleich eine gewisse Unabhängigkeit zu wahren. Während „traditionelle“ Musik zur Feier des Regimes instrumentalisiert wurde, etwa als Vorprogramm einer politischen Veranstaltung, die dann auch in den Medien übertragen wurde, war der Druck auf die moderne Tanzmusik weniger sichtbar. Führende Funktionäre gaben den Bandleadern bzw. Managern aber zu verstehen, dass Sie Preislieder auf die Regierungspolitik und Führungspersonen des Regimes erwarteten, etwa indem Musiker*innen körperlich bedroht, Konzerte abgesagt oder auch sabotiert wurden. Zugleich thematisierten Musiker*innen durchaus soziale und besonders ökonomische Probleme, wenngleich bisweilen zwischen den Zeilen von Liebesliedern. Kontroverse politische Themen fielen aber eher der staatlichen und zusehends der Selbstzensur durch Musiker*innen zum Opfer. Gleichwohl waren Musiker*innen noch am ehesten die gesellschaftliche Gruppe, die sich aufgrund der Mischung aus ihrem Status als Stars und andererseits ihrer sozialen Marginalisierung als Künstler*innen noch politische Kritik leisten konnte. Dieser ambivalente Umgang zeitigte kafkaeske Folgen: Franco fand sich bisweilen in der Rolle des protegierten Großkünstlers, von dem Preislieder auf Mobutu erwartet wurden, zu anderen Zeiten dann aber im Gefängnis wieder.[7]
Candidat Na Biso Mobutu (abridged) - Luambo Makiadi & le T.P .O.K. Jazz 1984
Ab den 1970er Jahren verordnete Mobutu der kongolesischen Bevölkerung – und hierbei besonders auch den Musiker*innen – eine Rückkehr zur ‚Authentizität‘, die sich etwa in lokalen statt christlichen Namen, der Wahl lokal inspirierter Kleidungsstücke und eben auch der Lokalisierung der Musik ausdrücken sollte. Schließlich wurde die DR Kongo in ‚Zaire‘ umgetauft. Trotz dieses politischen Drucks auf das kulturelle Leben und teilweise auch wegen der Förderung des ‚Lokalen‘ gelten die 1970er Jahre zunächst noch als Blütezeit für eine neue Generation von jungen Musiker*innen und zahlreichen Orchestern. Allein in Kinshasa soll es rund 300 Orchester gegeben haben. Zusehends behaupteten sich auch Frauen als Musikerinnen und Solostars; zu nennen wären etwa Abeti Masikini oder Mpongo Love. Die junge Generation trug dazu dabei, regionale Rhythmen in die moderne kongolesische Musik einzuführen und setzte damit die Idee der authenticité musikalisch um. Shungu Wembadio, als Papa Wemba bekannt, führte etwa den Rhythmus Tetela aus Kasai und Lita Mbembo den Rhythmus Mongo aus der Provinz Equateur in die populäre Musik ein. Die Qualität der Kompositionen verbesserte sich merklich im Laufe der 1970er Jahre, nicht zuletzt dank des Beitrags der sogenannten Belgicains, damals junger Kongolesen, die in Belgien oder anderswo im Ausland studiert hatten. Es ist insgesamt eine Epoche der Professionalisierung des Kulturbetriebs in Zaire, in diese Zeit fällt die Gründung der Academie des Beaux Arts, und der Beginn einer lokalen Musikpresse.[8]
Neben dem großen Beitrag der Belgicains und Einflüssen von unterschiedlichen neueren europäischen Musikgenres prägten vor allem afroamerikanische Musiker wie James Brown, Aretha Franklin, Wilson Pickett oder Otis Redding die jüngere Musikergeneration. Es sei daran erinnert, dass diese nicht nur über das Radio oder über die nun weithin genutzten Langspielplatten, sondern auch durch den Auftritt vieler US-amerikanischer Musiker*innen zum Rumble in the Jungle, dem Konzert zum Boxkampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman 1974, erlebt werden konnten. Bands wie Zaiko Langa Langa entwickelten auf Basis dieser Einflüsse ganz neue, eigene Stile. Ausgründungen aus und Abspaltungen von Zaiko Langa Langa, wie etwa Viva la Musica, Langa Langa Stars, Choc Stars Antichoc, Victoria Eleison oder Quartier Latin, bereicherten die Musik im Land nachhaltig. Aber auch weitere Musiker*innen, ohne Verbindung zu Zaiko, erschienen auf der zairischen Szene, zu nennen hierbei sind u.a.: Lipua Lipua, Bella Bella und Empire Bakuba, unter dem lokalen Medienmogul Kiamwangana Mateta auch Verckys genannt. Verckys und sein Orchester VéVé werden unter den Größten dieser Epoche erinnert, und zwar wird er sowohl wegen seiner Musik als auch wegen der großzügigen finanziellen Unterstützung jüngerer Musiker*innen geschätzt.[9]
Die hohe Zahl an Orchestern in Kinshasa und der damit einhergehende Wettbewerb, aber auch das politische Klima des Mobutu-Regimes trieben etliche Musiker*innen in die Emigration – zunächst innerhalb des Landes in den Osten Zaires, zusehends dann auch in ostafrikanische Nachbarländer, wie Uganda, Kenia und Tansania. Kongolesische Musiker*innen gingen dort schon seit geraumer Zeit erfolgreich auf Tournee, dann gründeten Ostafrikaner*innen selbst Bands, die kongolesische Musik nachspielten. Es war also ein wachsender Markt für kongolesische Musik vorhanden. Für diese Bewegung steht die Biographie des gebürtigen Kongolesen Remmy Ongala, dessen Karriere sich erst in Tansania entwickelte und ihn von dort auf die Bühnen der Welt bringt, wo er zum großen Star der World Music avancierte.[10]
Remmy Ongala and Orchestre Super Matimila - I Want To Go Home (live at Real World Studios)
III. Soukous und die Ära der World Music
Die 1980er Jahre markieren den Beginn einer Ära, in der mehr kongolesische Musiker*innen einem globalen Publikum bekannt wurden als in jedem früheren Jahrzehnt. Die Musikindustrie erfand in den 1980er Jahren ein neues Marketinginstrument: die Kategorie World Music, um ‚nicht-westliche‘ Musik zu verkaufen – einschließlich afrikanischer. Dieses Marketing lief Gefahr, afrikanische und andere Musik zu exotisieren, weshalb dieses Label heute eher kritisch betrachtet wird. Gleichwohl half es, afrikanische Tonträger in ganz neuen Dimensionen zu verkaufen, und brachte eine ständig wachsende Anzahl von afrikanischen Musiker*innen in den Globalen Norden.
Allerdings hatten die kongolesischen und panafrikanischen Superstars wie etwa Franco, Tabu Ley Rochereau, Abeti, Koffi Olomide, oder Bands wie Kanda Bongo Man oder Zaiko Langa Langa keinen vergleichbaren weltweiten Erfolg wie etwa die westafrikanischen Musiker*innen Youssou N’Dour, Salif Keita oder Angélique Kidjo. Am ehesten konnte sich noch Papa Wemba dauerhaft in Paris etablieren. Wemba, vormals Mitglied von Zaiko Langa Langa, auch als ‚König der Sapeurs‘ bekannt, gründete zweimal seine Band Viva La Musica, einmal in den 1970er Jahren in Kinshasa, ein zweites Mal in den 1980er Jahren in Paris. Mit letzterer wurde er zum World Music-Star. Es war mit der Weltmusik-Industrie immerhin eine infrastrukturelle Basis gelegt, die auch für Musiker*innen in Zaire Einnahmen durch Tonträgerverkauf generierte. Im Globalen Norden etablierte sich eine Szene, die die kongolesischen Musiker*innen kannte und schätzte. In diesem Kontext erfolgreich wurde die ebenfalls in Paris ansässige Gruppe Kanda Bongo Man, die den Soukous in einen popkompatiblen Stil namens Kwassa Kwassa weiterentwickelte, der durch kurze, radiotaugliche Stücke geprägt war[11].
IV. Die nouvelle génération seit den 1990er Jahren
Bereits am Ende der 1980er Jahre prägte Koffi Olomidé mit einem eigenen Rhythmus, Tchatcho genannt, die Szene und ist bis heute ein zentraler Bezugspunkt für junge Musiker*innen. Die 1981 gegründete Band Wenge Musica war ebenfalls über fast zwei Dekaden sehr dominant, wie auch die mit der Spaltung der Band 1997 gegründeten Gruppen Wenge Maison Mère von Wella Son und Wenge Musica B.C.B.G von J. B. Mpiana. Mit ihnen traten weitere große Bands dieser Ära auf den Plan. Seit dieser Dekade spielen religiöse Lieder eine zunehmend wichtige Rolle in der kongolesischen Popmusik, auch wenn die Auseinandersetzung mit und der Bezug auf den Katholizismus immer schon wichtig war. Die belgische Kolonialmacht hat religiöse Musik als Mittel verstanden, um die Kongoles*innen zu ‚zivilisieren‘. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit zählte die DR Kongo über 80 % gläubige Katholik*innen, den Rest bildeten Protestant*innen und Anhänger*innen traditioneller afrikanischer Religionen. In den sich aneinanderreihenden Krisen der folgenden Dekaden erwies sich die DR Kongo als ein ideales Feld für den protestantischen Fundamentalismus aus den USA. In einem bürgerkriegsartigen Umfeld erschienen religiöse Akteure unterschiedlichster Herkunft als ‚Rettung‘ für große Teile der Bevölkerung, weshalb die Zahl religiöser Gruppen in den letzten Dekaden rapide zunahm. Wichtiger Aspekt dieser spirituellen Entwicklung ist die Musik. Diese reicht von katholisch-gregorianischen Chorälen, über eine Art Gospel, bis zu den modernen Formen der kongolesischen Rumba-Musik mit religiösen Texten.[12] Zum kongolesischen Hip Hop, der ebenfalls in dieser Dekade weitere Verbreitung fand, kann an dieser Stelle nur auf weiterführende Literatur verwiesen werden.[13]
V. Le jour d’après – Die ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts
Die letzten 20 Jahre sind von einer erneuten, wiedererstarkten internationalen Präsenz kongolesischer Musik, ganz besonders im Globalen Norden geprägt. Die hierbei wohl am meisten wahrgenommene Band ist dabei Konono No.1, vertrieben über das belgische Label Crammed Discs.[14]
Konono N°1 - Mama Na Bana - Session Live pour les Francofolies de Spa 2012
Besonders dem deutschsprachigen Publikum dürfte das Orchestre Symphonique Kimbanguiste durch den deutschen Dokumentarfilm „Kinshasa Symphony“ aus dem Jahr 2010 bekannt geworden sein, der die Herausforderungen eines Orchesters zeigt, das europäische Klassik in Kinshasa auf die Bühne bringt.[15]
Das Jahr 2010 spielte symbolisch eine große Rolle für die DR Kongo, wie für viele andere Staaten des subsaharischen Afrika, denn es wurde das 50-jährige Unabhängigkeitsjubiläum gefeiert. Die Frage danach, was seit der Unabhängigkeit erreicht wurde, welche Träume geplatzt sind, welche Chancen verpasst wurden, scheint sich in diesem Rückblick auszudrücken. So äußert die kamerunische Rapgruppe Ak Sans Grave in ihrer Version des „Indépendance Cha Cha“ ganz dezidiert Kritik an den enttäuschten Hoffnungen der Unabhängigkeitsära.[16] Der belgisch-kongolesische Rapper Baloji, der mit den 2010 noch lebenden Musikern von L’African Jazz und anderen Bands der Epoche spielt, drückt diese Enttäuschung auch visuell in seinem Musikvideo des Stücks „Le jour d’après“, das den Indépendance Cha Cha zitiert, mittels einer melancholischen Atmosphäre, die an Wim Wenders nostalgische Havanna-Bilder und damit an die fast gelebte Utopie erinnert. Der Text thematisiert die nicht eingehaltenen Versprechen der Unabhängigkeit, kritisiert die Korruption und berichtet von den Kriegen, welche die DR Kongo erschüttern. Es bleibt abzuwarten, wie die kongolesische Musik auf die derzeitigen Veränderungen reagieren wird – und wie sehr man kongolesische Musiker*innen dabei auch international wahrnimmt.
Baloji - „Le Jour d'Après / Siku Ya Baadaye“ (Indépendance Cha Cha) (Eng Subtitles)
VI. Anmerkungen
[1] Manda Tchebwa, Antoine (1996): Terre de la Chanson. La Musique Zairoise hier et aujourd’hui, Louvain-La-Neuve: Ducalot; White, Bob (2002): Congolese Rumba and Other Cosmopolitanisms. In: Cahiers d'Études Africaines, 42, 168, 663-686.
[2] Ewens, Graeme (1994): Congo Colossus – The Life and Legacy of Franco and OK Jazz, North Walsham: Buku Press; Monsengo Vantibah, Mabélé (2009): La Musique congolaise moderne – 1953-2003 – De Kallé Jeff à Werrason, Paris: L’Harmattan; White, Bob (2008): Rumba Rules – The Politics of Dance Music in Mobutu’s Zaire, Durham: Duke University Press.
[3] Arnaud, Gérald und Henri Lecomte (2006): Musiques de toutes les Afriques, Paris: Fayard.
[4] MONSENGO VANTIBAH, La Musique congolaise moderne, 49.
[5] Collins, John, (1989): The Early History of West African Highlife Music, in: Popular Music 8 (3), 221-230.
[6] Steward, Gary (2000): Rumba on the River: A History of the Popular Music of the Two Congos, London: Verso.
[7] EWENS, Congo Colossus; White, Bob W. (2006): ‘L’incroyable machine d’Authenticité: l’animation politique et l’usage public de la culture dans le Zaïre de Mobutu.’ Anthropologie et Sociétés 30, 2, 43–63.
[8] STEWARD, Rumba on the River.
[9] STEWARD, Rumba on the River.
[10] Sanga, Imani (2010): Postcolonial Cosmopolitan Music in Dar es Salaam: Dr. Remmy Ongala and the Traveling Sounds, in: African Studies Review, 53, 3, 61-76; Hilhorst, Sean (2009): Remmy Ongala: Capitalist transition and popular music in Tanzania 1979–2002, in: Journal of African Cultural Studies Vol. 21, No. 2, December, 105–126.
[11] Horn, David und John Lwanda (2019): Kwasa Kwasa, in: Bloomsbury Encyclopedia of Popular Music of the World, Volume XII: Genres: Sub-Saharan Africa, New York & London, Bloomsbury, 355.
[12] Wood, Peter und Emma Wild-Wood (2004): 'One Day We Will Sing in God's Home': Hymns and Songs Sung in the Anglican Church in North-East Congo (DRC), in: Journal of Religion in Africa, 34, 1/2, 145-180.
[13] Ndaliko, Chérie Rivers (2019): Hip-Hop in the Democratic Republic of the Congo, in: Bloomsbury Encyclopedia of Popular Music of the World, Volume XII: Genres: Sub-Saharan Africa, New York & London, Bloomsbury, 267-271.
[14] Petridis, Alexis (2006): Assume Crash Position, in: https://www.theguardian.com/music/2006/apr/04/popandrock1, 04.10.2021.
[15] Silvia Hallensleben (2010): Kritik zu Kinshasa Symphonie, in: https://www.epd-film.de/filmkritiken/kinshasa-symphony, 04.10.2021; Böhm, Andrea (2010): The Making of "Kinshasa Symphony", in: https://www.zeit.de/kultur/film/2010-02/kinshasa-dokumentarfilm/komplettansicht, 04.10.2021.
[16] Dorsch, Hauke (2010): ‘IndépendanceCha Cha’ – African Pop Music since the Independence Era, in: Africa Spectrum 45, 3, 131-146; Dorsch, Hauke (2012): Vom „Independance Cha Cha“ zu „Quitte Le Pouvoir“ - Afrikanische Popmusik seit der Unabhängigkeitsära, in: Thomas Bierschenk und Eva Spies (Hrsg.): 50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika -Kontinuitäten, Brüche, Perspektiven. Köln: Köppe, 501-523.
Quellenverzeichnis
Arnaud, Gérald und Henri Lecomte (2006): Musiques de toutes les Afriques, Paris: Fayard.
Collins, John, (1989): The Early History of West African Highlife Music, in: Popular Music 8 (3), 221-230.
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