
Joshua Sanders (Autor) & Yves Huybrechts (Betreuung)
Abstract
Justus Lipsius – ein Philosoph aus den Spanischen Niederlanden des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts (in etwa das heutige Belgien). Zeitgenossen und Philosophen heute kennen ihn hauptsächlich für seine Neuauflage der antiken Werke Senecas und für seine Rolle im Neostoizismus. In diesem Beitrag wollen wir aber der Frage nachgehen, welche Staatsphilosophie in seinen eigenen Werken entwickelte und welche Wirkung diese auf das Denken seiner Zeit hatten.
Einführung
Wie soll man glücklich sein und sich damit zufriedengeben, von Ungerechten beherrscht zu werden? Wenn diese Ungerechten zudem untereinander Kriege führen, unter dessen Auswirkungen man leidet, ohne dass man die Möglichkeit hätte einzugreifen? Wer kann in dieser Ohnmacht noch Glück finden? Und an die Herrscher gefragt: Wie muss der ideale Politiker sein? Hierauf wollte Justus Lipsius Antworten anbieten. Die Bedeutung dieser Fragen, die auch heute noch relevant sind, wird aus seiner eigenen Zeit heraus nochmal präsent. Lipsius lebte nämlich in Zeiten intensiver politischer und vor allem religiöser Konflikte, welche seine Biografie in mehreren Punkten berühren. Er musste nicht nur mehrmals vor Konflikten fliehen, sondern seine Werke wurden auch äußerst kritisch von der Kirche und den Landesherren betrachtet. In diesem Beitrag wird zunächst kurz der Werdegang Lipsius‘ geschildert, bevor auf zwei seiner wichtigsten Werke und deren Einfluss auf die Staatslehre jener Zeit eingegangen wird.

Werdegang
Heute ist Lipsius in Deutschland wenig bekannt, aber man kann ihn zu den einflussreichsten Philosophen der vormodernen Zeit zählen. Er ist vor allem für die heutigen BeNeLux-Länder (Belgien, Niederlande, Luxemburg) eine wichtige Persönlichkeit, an die auch ihre kollektiven und geteilten Erinnerungen anknüpfen. Ein Gebäude der Universität Leiden trägt seinen Namen[1], ebenso wie ein Studentenwohnheim der Universität Löwen[2], doch am prominentesten ist das Justus-Lipsius-Gebäude in Brüssel, der Hauptsitz des EU-Rates.[3] Lipsius’ Denken begründet diese relative Berühmtheit. Seine in hoher Auflagenzahl publizierte Philosophie wurde an den verschiedensten Stellen rezipiert und seine Reinterpretation Senecas war maßgeblich innerhalb des Neostoizismus.[4]

Als Katholik wurde Lipsius am 18. Oktober 1547 in Overijse, einer Stadt zwischen Brüssel und Löwen, geboren; ursprünglich als Joest Lips, welches er später zu Justus Lipsius latinisierte. Sein Bildungsweg führte ihn durch eine „Kapelleschool“ in Brüssel und eine Lateinschule in Ath, um schließlich zwölfjährig im Jahre 1559 ein Studium am Jesuitenkolleg Bursa Nova Tricoronata in Köln anzufangen. Fünf Jahre später folgte seine Immatrikulation an der Universität Löwen, wo er Recht studierte und am Collegium Trilingue Cornelius Valerius, seinen Lateinlehrer, kennenlernte, welcher Löwen zum Mittelpunkt philologischer Studien in Belgien machte.[5] Hier hat Lipsius mit der Auslegung lateinischer Texte begonnen und bereits 1569 eine Auslegung der Texte Ciceros, Propertius und Varros veröffentlicht.
Hierauf begann er eine längere akademische Reise durch Italien, mit Höhepunkt in Rom. Dort wurde Lipsius Privatsekretär des Kardinals Antoine Perrenot de Granvelle, welcher bis zu seiner Abberufung spanischer Kardinal und grande am spanischen Hof in den Niederlanden gewesen ist und um dessen Person sich wegen seines Einflusses auf die spanischen Politik in den Niederlanden (besonders hinsichtlich der Verwaltung, der Bistumsstrukturen und Verfolgung von Protestanten) eine schwarze Legende aufbauen würde.[6] Hier traf Lipsius auch zahlreiche prominente Gelehrte, wie Marc-Antoine Muret, Fluvio Orsini, Paolo Manuzio und Guglielmo Sirleto.

Auf diese lehrreiche Zeit folgten verschiedene weitere Aufenthalte. 1570 kehrte er nach Löwen zurück, floh aber im Kontext der religiösen Wirren der Niederlande, die gerade im Aufstand gegen Spanien waren, 1571 nach Lüttich. Im Frühjahr 1572 zog er kurz nach Wien, erhielt aber im Oktober einen Lehrstuhl für Geschichte an der lutherischen Universität in Jena, wo er eine Auslegung Tacitus‘ veröffentlichte. 1574 sollte er jedoch wieder in die Niederlande zurückkehren, denn er wurde an die neugeschaffene Universität Leiden berufen. Diese Etappe war nicht ohne politische Bedeutung, denn die Gründung dieser Universität war ein Statement der sich im Aufstand gegen Spanien befindlichen nördlichen niederländischen Provinzen. Seine Leidener Zeit (bis 1591) nannte Lipsius selbst aber seine produktivste. Hier veröffentlichte er auch seine einflussreichsten Werke De Constantia und Politica. Letzteres Werk war, wie unten verdeutlicht wird, besonders kontrovers, weswegen er in die katholischen südlichen Niederlande zurückkehrte.

Am Ort, wo seine Karriere begonnen hatte, dem Collegium Trilingue in Löwen, erhielt er schließlich im Jahre 1592 einen Lehrstuhl für Latein und Geschichte, wo er eine Seneca-Edition samt Interpretationen veröffentlichte.[7] 1595 wurde er zum königlichen Historiographen ernannt und er veröffentlichte religiöse Schriften im Sinne der Agenda der Erzherzöge und quasi unabhängigen Statthalter der Niederlande Alberts und Isabellas. In der Nacht des 23. auf den 24. März 1606 starb Lipsius in Löwen, laut seinen katholischen Biographen als „frommer Katholik“. Er wurde in der dortigen Franziskanerkirche beigesetzt.
Lipsius starb nicht gerade als Unbekannter seiner Zeit. Als „Homme de Lettres“, veröffentlichte er seinen eigenen Briefwechsel. Zu seinen vielen Kontakten zählten Persönlichkeiten wie Michel de Montaigne oder Hugo Grotius, als auch Philip Rubens, der Bruder Peter Paul Rubens‘. Letzterer verewigte Lipsius im Gemälde Die vier Philosophen und möglicherweise inspirierte der Kontakt mit dem Neostoiker auch das Gemälde Senecas Tod.
De constantia
In Zeiten größter religiöser Unruhe im Jahre 1583 schrieb Lipsius De Constantia (dt. Von der Beständigkeit). Marc-Antoine Muret hatte Lipsius’ Interesse an den antiken Philosophen Seneca und der Stoa angestoßen, was nun sichtbar die De Constantia beeinflusste.[8] Die Philosophie des Stoizismus kennzeichnet sich grundsätzlich durch die Forderung einer vernunftgeleiteten, naturgemäßen und emotionslosen Lebensführung.[9] In De Constantia handelt es sich um einen philosophischen Dialog zwischen Lipsius und seinem Freund Karl Langius in Lüttich, welches das vermeintlich echte Gespräch wiedergeben soll, das Lipsius mit Langius hatte, als er 1571/72 über Lüttich nach Wien reiste. Ob es eine getreue Wiedergabe ist, ist zweifelhaft, viel wichtiger sind jedoch die Gedanken, die hier entwickelt werden.[10]

Grundthese des Werkes ist, dass nur der Gehorsam gegenüber Gott Freiheit wäre. Alles, was Menschen geschieht, geschieht aus Notwendigkeit (heute würden wir vielleicht von Naturgesetzen sprechen), welches Fatum genannt wird. Lipsius leugnet in seinem Werk nicht die Existenz von Leid und Unrecht, doch gerade für diese soll man sich eine Einstellung der constantia, also Beständigkeit, aneignen. Der Weise, so Lipsius, kämpft nämlich nicht gegen die Naturgesetze bzw. die Notwendigkeit des Schicksals an. Geduld und Vernunft sollen ihm helfen, mit ihnen umzugehen. Emotionen hingegen stören die Seelenruhe.[11]
Da De Constantia in die Seneca-Rezeption und den Neostoizismus verortet wird, überrascht vielleicht die Frage: War Lipsius überhaupt Stoiker? In De Constantia unterscheidet Lipsius vier Arten des fatum: fatum mathematicum (mathematisches Fatum), fatum naturale (natürliches Fatum), fatum violentum (gewaltsames Fatum) und fatum verum (wahrhaftes Fatum).[12] Das mathematische Fatum stellt die Bindung aller menschlichen Handlungen an die Sterne dar und wird von Lipsius als Idee verworfen („Und in diesem Narrenschiff sitzen (noch heute – es ist eine Schande für die Christenheit) die gewöhnlichen Astrologen“).[13] Das natürliche Fatum entspricht der Position Aristoteles‘, doch wird von Lipsius in der Hinsicht als unzureichend kritisiert, weil es nicht in der Lage ist, das Problem der Vorbestimmtheit der Natur zu erörtern, sondern nur die Notwendigkeit in der Natur beschreibt.[14]
Im nächsten Schritt wird es interessant. „Wir kommen zu meinen Stoikern“ beginnt Lipsius, „denn ich mache kein Geheimnis daraus: ich halte große Stücke auf diese Sekte und liebe sie“.[15] Danach jedoch klassifiziert er die klassische stoische Position als gewaltsames Fatum. Grund hierfür ist, dass die Stoiker einerseits Gott und andererseits auch den freien Willen dem Fatum unterwerfen.[16] Dahingegen zeichnet sich das wahrhafte Fatum laut Lipsius darin aus, dass Gott selbst diesem nicht unterworfen ist, er nicht darunter leidet, sondern dass er dessen Autor ist. Hier distanziert sich Lipsius also scheinbar von der Position Senecas. ”Scheinbar”, denn gleichzeitig erhebt er Einspruch gegen die Angriffe auf Senaca.[17] Lipsius zieht hierfür Zitat Senecas heran: „Er selbst, der Schöpfer und der Lenker aller Dinge, hat die Fata zwar geschrieben, aber folgt ihnen. Er folgt immer, er befiehlt immer“.[18] John Sellars zeigt, dass Lipsius in einem anderen Werk, der Physiologia Stoicorum, die stoische Position ausdrücklich unterstützt, dass das Fatum selbst aus der göttlichen Vorsehung, der provedentia hervorgegangen sei, welches nichts anderes als der Wille Gottes ist. Gott ist dem Fatum nicht unterworfen; er hat es hervorgebracht. Er folgt und ändert es nicht, da es selbst in seiner Ordnung perfekt ist und Gott notwendigerweise nur das perfekte wollen kann. Hier ist das stoische mit dem wahrhaften Fatum gleichgesetzt. Deshalb geht Sellars nicht davon aus, dass sich zwischen diesen Schriften ein Wandel in Lipsius‘ Verständnis der stoischen Philosophie ereignet hat. Dessen Distanzierung in der Constantia sei nur oberflächlich gewesen, „to show careful readers that in fact he embraced the Stoic position“ und dass diese doch nicht so problematisch war, wie eine heidnische Philosophie aus christlicher Sicht in einer Zeit konfessioneller Unruhen scheinen mochte, indem er zeigt, dass die christliche Kritik am Stoizismus unberechtigt war.[19]
Einem Fatum unterworfen zu sein, bezieht sich hier weitestgehend auf die natürliche Ordnung, also Seuchen, Naturkatastrophen, sowie die eigene Sterblichkeit. Lipsius argumentiert, dass die Welt trotz diesen Übeln perfekt sei. Die menschliche Freiheit ist also auch Teil der perfekten Welt. Nur geht mit der Existenz der menschlichen Freiheit die Möglichkeit des unmoralischen Handelns, insbesondere der Möglichkeit unmoralisch handelnder Herrscher, einher. Somit eröffnet sich die Möglichkeit einer Ordnung außerhalb der Naturgesetze, in denen der Mensch immer noch einer fremden Macht unterworfen ist, nämlich der Tyrannei. Somit erschließt es sich von selbst, den Blick auf die Herrscher zu richten.
Politica
Die Politica, veröffentlicht 1589, bildet das Gegenstück zur De Constantia. In letzterer richtet Lipsius sich an den Menschen, wie er beherrscht wird und wie er mit dieser Beherrschung umgehen soll. Das Werk selbst wurde leicht angepasst, nachdem Lipsius in die katholischen Südlichen Niederlande floh.[20] In der Politica richtet er sich an den Herrscher und wie er regieren soll. Lipsius orientiert sich direkt am Feudalstaat, welches ihn bereits in Kontrast zu Platon und Aristoteles stellt. Er bezieht sich auf verschiedene Positionen, zum Beispiel Tacitus, Thomas von Aquin, Jean Bodin oder Machiavelli. Gefordert wird eine Idealmonarchie auf stoischen Werten, in welcher sich der Herrscher Lipsius’ Vorstellung der Vernunft unterordnet. Aufgeteilt ist das Buch in sechs Bücher. In den ersten drei Büchern werden die Tugenden des Herrschers behandelt. Wichtig dabei ist die Auffassung, dass Tugend und Klugheit miteinander verbunden sein müssen, es also keinen klugen Herrscher geben kann, der nicht auch ein moralischer Herrscher ist. Auch der Zweck der Regierung und die Bedeutung von guter Beratung werden hier angesprochen. Im fünften und sechsten Buch handelt er hauptsächlich von der militärischen Klugheit.
Das vierte Buch ist wesentlich inhaltsreicher. Hier werden die eigene Klugheit des Herrschers und die Rolle der Religion im Staat thematisiert. Nach Lipsius kann es in einem Gemeinwesen nur eine Religion geben; eine Ansicht, die bei Protestanten und Katholiken nicht beliebt war, weswegen das Buch auf dem Index platziert wurde. Immerhin wurde so den Parteien des religiösen Konflikts zugesprochen, ihre Religion im jeweiligen Territorium durchzusetzen. Der Staat sollte sich nicht in kircheninterne Angelegenheiten einmischen. Nur diejenigen, welche ihren Glauben leise und friedlich ausleben, sollten toleriert werden, der Rest verbrannt und abgeschnitten, denn „Ein Gliedmaß ist nicht so wichtig wie der ganze Körper“. In dieser Aussage Lipsius’ tritt neben der für diese Zeit typischen organischen Auffassung vom Staat als Körper auch eine frühe, fast absolutistische Auffassung vom Staat nach vorn.
Zusammengefasst muss der Fürst nach Lipsius so stark wie möglich sein, denn er war der Garant für Frieden und Ordnung, indem er die spalterischen Mächte im Griff hält.
Ein großer Streitpunkt heute ist das Verhältnis Lipsius‘ zu Machiavellis Staatslehre. Dabei sieht Robert Bireley vor allem Lipsius als Begründer eines „katholischen Antimachiavellismus“, der eine pragmatische Politik entwirft, die weiterhin die Moral aufrechterhält.[21] Verschiedene Rezensionen zeigen allerdings, dass diese Deutung nicht konsensfähig ist. Die Kritik an Bireley ist in erster Linie kategorischer Natur und richtet sich an seinem Verständnis Machiavellis entlang der alten Deutungsmuster.[22] Auch Bireleys Deutung von Lipsius‘ selbst wird kritisch betrachtet, da Bireley ihn als Akteur in der Gegenreformation verortet sowie überhaupt die Kategorisierung Lipsius‘ als einfach katholisch nur sehr schwer zu rechtfertigen ist.[23] Aber könnten sich Machiavelli und Lipsius nicht doch näher stehen, als man vermuten würde? Denn Lipsius‘ Pragmatismus brachte ihn teils „gefährlich nahe“ an den Machiavellismus, wie es Bireley selbst sagt.[24] Nach Lipsius seien Tugend und Klugheit aneinandergebunden – hierin liegt schließlich die Komponente der Moral -, doch des Fürsten Tugend ist seine Klugheit. Der Fürst darf seine Untertanen zum Beispiel täuschen.[25] Hier scheint doch ein machiavellistischer Gedanke zu wirken. Anders als bei Machiavelli, sind die Untertanen dem Fürsten bei Lipsius allerdings nicht ausgeliefert, sondern bilden eine Einheit. Die Täuschung eines Fürsten ist aber nur gestattet, solange sie der Bewahrung der Gesetze dient.[26]

Dieses Denken stand im radikalen Gegensatz zur Staatsphilosophie des Mittelalters. Paradigmatisch kann hierfür Thomas von Aquin herangezogen werden: Das Wesen der Regierung laut Aquin ist, was es führt, zu seinem Ziel zu bringen. Das Ziel liegt außerhalb dessen, weswegen die Regierung mehr tut, als es nur zu bewahren. Dies klingt etwas kryptisch, doch Aquin gibt uns das Beispiel des Schiffers an die Hand. Er soll das Boot nicht nur erhalten, sondern es auch sicher in den Hafen führen. Der Herrscher muss sicherstellen, dass die Menschen nach guten Grundsätzen leben: „Daher bedarf der Christ […] einer geistlichen Fürsorge, durch die er in den Hafen des ewigen Heils geführt wird“.[27] Das gleiche Ziel für die Regierung gibt uns auch Augustinus etwas polemischer vor:
“Was nun das Leben sterblicher Menschen anlangt, das wenige Tage währt und dann zu Ende ist, was liegt viel daran, unter wessen Herrschaft der dem Tode entgegengehende Mensch lebt, wenn ihn nur die Herrscher nicht zu gottlosen und ungerechten Taten zwingen?”[28]
Der Staat ist hier genau das Gegenteil eines Zwecks, ebenso wenig wie ein Leben in Sicherheit und Frieden. Bei Augustinus vermeint man beinahe Verachtung dafür zu hören. Alles ist hier Mittel, Vorbereitung für das jenseitige Leben.
Diskurse
Gefragt nach der strukturellen Bedeutung Lipsius’ kann man sagen, dass er für die Verbreitung des römischen Stoizismus eine große Rolle gespielt hat, welche es davor, insbesondere mit Bezug auf Seneca, so nicht gegeben hatte. Allein zu Lipsius’ Lebzeiten wurden 41 lateinische Auflagen der Constantia veröffentlicht. Zusammen mit posthumen Auflagen und 33 Übersetzungsauflagen in verschiedene Sprachen kommt die Constantia auf 76 Ausgaben.[29] Das Buch De politica wurde besonders in Deutschland, Frankreich und Spanien groß empfangen. Hier hatte es nachweisbar Einfluss auf Staatsmänner wie Pierre Charron, Kardinal Richelieu, Herzog Maximilian II. Emanuel von Bayern und Gaspar de Guzmán Conde de Olivares.[30]
Gerhard Oestreich, der sich vermutlich am meisten mit Lipsius beschäftigt hat, nennt eine Vielzahl an Beispielen, um Lipsius‘ Relevanz zu demonstrieren: Berühmt ist u.a. Guillaume du Vairs (Mitstreiter Henri IV. und später Bischof von Lisieux) De la Constance et Consolations des Calamités publiques; welche sich allein am Titel als Bezugnahme auf Lipsius erkennen lässt. Du Vair wird von vielen gelesen, unter anderem von Corneille und Pascal. Montaigne und Lipsius standen auch in engem Kontakt und beeinflussten sich wohl gegenseitig. Ein Schüler Montainges, Pierre le Charron, veröffentlichte ebenfalls Schriften mit Einfluss Lipsius‘. Ebenso in den Dramen Robert Garniers, Antoine de Montchrestiens, als auch Corneille erkennt sich eine Seneca- Begeisterung. Darüber hinaus auch andere philosophische Schriftsteller, wie Philippe du Plessis-Mornay und Honoré d’Urfé in Frankreich; Philip Sidney (mit dem Lipsius auch in Kontakt stand), Gräfin von Pembroke und ihr Künstlerzirkel, Joseph Hall (Erzbischof von Exeter und Norwich) und Sir William Temple in England und zuletzt die berühmten Dichter Martin Opitz und Andreas Gryphius in Deutschland, als auch Daniel Casper von Lohenstein, welcher seine Tragödie „Agrippina“ mit einem Zitat aus der Constantia beginnt.
Ideell wirkte Die Constantia grundlegend für viele geistige Strömungen des frühneuzeitlichen Europas. Darunter war die Grundlegung einer deistischen Weltanschauung, welche Vertreter wie Herbert von Cherbury mit seiner „natürlichen Religion“ hervorbrachte, als auch der Vorsehungsglaube mit besonderem Einfluss auf Bacon, Descartes, Shaftesbury und Leibniz. Auch die Ansätze einer Naturrechtslehre lassen sich bereits in der Stoa erkennen, welche dann später Vertreter wie Hobbes, Locke, Spinoza und Pufendorf hervorbrachte und welche selbst nochmals Einfluss auf die Idee eines Menschenrechts hatte. Zuletzt vermutet Oestreich, dass die Ethik besonders Comenius, Cumberland, Thomasius, Wolff und nochmals Shaftesbury, Descartes und Spinoza beeinflusste. Auch ist die Stoa selbst bei Herrschern wie Friedrich II. nicht wegzudenken. Eine Entwicklung, welche sich ebenfalls in die angestoßene Seneca-Begeisterung einordnen darf.[31] Selbst einen Einfluss auf die Militärischen Revolution, womit die Zweckrationalisierung der Kriegsführung und staatlichen Verwaltung in der Frühen Neuzeit gemeint sind,[32] behauptet Oestreich bei Lipsius. Doch Oestreichs Behauptung des großen Einflusses Lipsius’, ist nicht unumstritten und wurden schon in Frage gestellt. So zum Beispiel der Einfluss auf die Militärrevolution von Philip S. Gorski.[33] Man muss diese Auszählung mit Vorsicht betrachten. Zumindest hat Lipsius zur neuen Seneca-Rezeption einen Beitrag geleistet hat, als auch zur Staatsphilosophie der Frühen Neuzeit Den Einfluss Lipsius’ auf die Staatsphilosophie kann man in einem exemplarischen Vergleich mit Hobbes näher verdeutlichen. Die Erhaltung des Friedens stand auch für Hobbes im Zentrum und ebenso wird hier ein ähnlich absoluter Staat gefordert:
„Wenn er [der Einzelne] plötzlich aufbegehrt und die Beschlüsse [des Gesellschaftsvertrages] nicht annimmt bricht er das Abkommen und handelt unrecht. […] er muss sich unterordnen, oder er […] kann von jedem getötet werden, ohne daß ihm ein Unrecht geschähe.“[34]
Allerdings erkennt man in diesem Hobbes-Zitat schon die Schwäche der Oestreichschen Argumentation. Es ist schwierig, die Beeinflussung klar zu identifizieren, wenn in den Positionen Unterschiede deutlich sind. Vor allem auf den Gebieten der Religion und des Rechts werden fundamentale Unterschiede erkennbar. Die religiöse Argumentation Lipsius‘ wurde bereits gezeigt. Hobbes verlegt den Ursprung der Religion im Menschen, deduziert nicht aus göttlicher Vorsehung, sondern induziert aus den Naturrechten (ein jeder ist frei seine Kräfte so zur Selbsterhaltung anzuwenden, wie er es für angemessen hält). Letztlich werden dann Recht und Unrecht innerhalb des Staates durch die Gesetze bestimmt, sodass jemandem, der durch die Justiz hingerichtet wird, per Definition kein Unrecht getan werden kann.[35] Dieser letzte Punkt steht in besonderem Widerspruch zu Lipsius, welcher an einem universalen Recht über der weltlichen Gesetzschreibung festhält:
„Die üblen Lehrer, die von Gesetzen befreien, die mit Caligula meinen: dem Herrscher sei alles, gegen alle, erlaubt. Oder mit Sallustius Memmius: Ein König zu sein, das ist den erstbesten straffrei machen. […] Das höchste Recht ist, mit Fähigkeit und Vermögen zu geben und nicht die Sicherheit davor, beim Fehlen nicht zugrunde zu gehen.“[36]
Fazit
War Lipsius‘ also ein katholischer Antimachiavellist? Zunächst wurde angemerkt, dass die Etikettierung als „katholisch“ nicht besonders geeignet ist, um Lipsius‘ Verhältnis zur Religion zu erklären. Er lehrte an calvinistischen und lutherischen Universitäten, stand mit Gelehrten aller Konfessionen in Kontakt und auch sein Umgang mit religiösen Fragen war kein katholischer, sondern einer, der sich konkret mit allgemeinen Fragen der Religion an sich befasst. Lipsius war nicht wirklich an innerkonfessionellen Fragen interessiert. Lipsius‘ Untersuchung zum stoischen Fatum zeigt, dass er der Frage nach Gott philosophisch nachgegangen ist, indem er Gott als Begriff auffasst und aus der Notwendigkeit dieses Begriffes die Gültigkeit der verschiedenen Fatum-Begriffe auf die Probe gestellt hat. Seine Religiosität ist hierbei fast jenseitslos. Er antwortet auf existentielle Sorgen derjenigen, welche sich dem Dasein mit allem Unglück ausgeliefert sehen. Das erste Kapitel von De Constantia beginnt nämlich so:
Wir werden […] nun schon seit so vielen Jahren durch das Auf und Ab des Bürgerkrieges wie in einem schäumenden Meer von den Winden der Aufläufe und Aufrührereien hierhin und dorthin geworfen. Muße und Ruhe für mein Herz? Trubel und Waffengeklirr verhindern sie. Garten- und Ackerbau? Kriegsleute und Mörder jagen mich wieder in die Stadt zurück.[37]
Wenn Lipsius in Anbetracht dieser existentiellen Probleme versucht das Fatum mit Gottes Willen in Einklang zu bringen, kann man hierin bereits das “Theodizee-Problem” erkennen: Wie kann Gott dieses Unrecht zulassen, wenn er allgütig, allmächtig, allwissend ist? Die Antwortet, die Lipsius bietet, fällt auch ähnlich wie die Antwort aus, die Leibniz später gibt: Gott hat die Ordnung in seinem Willen perfekt geschaffen, wir leben in der besten aller Welten. Das Unrecht ist die Konsequenz des Daseins:
“Es ist dieser Welt zu Beginn ein ewigwährendes Gesetz gegeben worden, nämlich daß alles in ihr geboren wird und stirbt, auf- und untergeht, und daß der Gebieter nichts Beständiges und Gewisses gewollt hat, außer sich selbst.”[38]
Und wie steht es um das Attribut „Antimachiavellistisch“? Unabhängig davon, ob Machiavelli der erste war, der diese Ideen hatte,[39] seine Philosophie setzte den Staat als Zweck. Der Staat durfte sich über Recht und Ethik hinwegsetzen, wenn sich daraus ein Vorteil für ihn ergab.[40] Herfried Münkler verweist darauf, dass es sich dabei nicht um einen reinen Selbstzweck handelt, sondern dass ein Leben in Sicherheit und Frieden überhaupt erst durch staatliche Ordnung gewährleistet werden kann und gerade deshalb der Staat der letzte Zweck sein muss.[41] Es wurde gezeigt, dass Lipsius die Moral im politischen Geschäft behalten will. Aber entpuppt er sich hierbei vielleicht als „Ewiggestriger“, der nur die Ideen des Mittelalters verzweifelt wiederbelebt? Die oben genannten Erkenntnisse erlauben so eine Deutung nicht. Man erkennt zwar, mit welchem Interesse Lipsius noch bei Moral und Religion bleibt, aber es lässt sich ein deutlicher Paradigmenwandel erkennen. Zunächst orientiert sich seine Moral strickt am pragmatischen Staatsgeschäft. Vielleicht müssen Politiker notwendigerweise zu ihrem eigenen Vorteil gelegentlich täuschen, doch dürfen sie dies nur, insofern es dem Staat wirklich nützt. Bei Machiavelli ist der Fürst moralisch darin gerechtfertigt die moralische Rechtfertigung an sich zu verlassen., bei Lipsius scheint der Staat immer einer moralischen Rechtfertigung verpflichtet zu sein. Er darf scheinbar unmoralisch handeln, wenn diese Handlung einem wirklich moralischen Ziel, wie der Erhalt seines Staates, dient (anders als Machiavelli, dem es gerade um das Bewahren dieses Scheins geht.).[42] In beiden Fällen jedoch heiligt der Zweck die Mittel, sodass man durchaus fragen kann, ob sich Lipsius und Machiavelli nicht doch übereinstimmen. Man sieht, wieso Bireley davon spricht, dass sich Lipsius und Machiavelli „gefährlich nahe“ kamen.[43] Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass Lipsius, wie im obigen Kapitel festgestellt wurde, an einer universalen moralischen Ordnung festhält und sich darin deutlich von Machiavelli unterscheidet. Man kann ihn als konfessionellen und vor allem post-machiavellistischen Antimachiavellist betrachten.
Auf die eingangs gestellten Fragen bietet uns Lipsius also folgenden Antworten: Sieht man sich konfrontiert mit den Ungerechtigkeiten der Wirklichkeit, muss man sich eine stoische Beständigkeit aneignen. Es ist irrsinnig, gegen Gewalten anzukämpfen, welche unvermeidlich zur Wirklichkeit gehören und nur ein Resultat alles Vergänglichen in der Wirklichkeit sind. Man soll Leben gemäß dem Spruch des Stoikers Epiktet: „Alles gering zu schätzen, dass nicht in unserer Macht steht.“[44] Der Fürst wiederrum, dem dieses in der Macht steht, hat die Aufgabe das Leben der Untertanen doch in Sicherheit und Frieden zu ermöglichen.
Endnoten
[1] Homepage der Universiteit Leiden: Locations Lipsius. https://www.universiteitleiden.nl/en/locations/lipsius#tab- (10/01/2025).
[2] Homepage der KU Leuven: Justus Lipsiuscollege. https://www.kuleuven.be/english/life-at-ku- leuven/housing/find-housing/students/residences/student-services-residence-halls/justius-lipsiuscollege (10/01/2025).
[3]Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union: Justus-Lipsius-Gebäude. https://www.consilium.europa.eu/de/contact/address/council-buildings/justus-lipsius-building/ (10/01/2025).
[4] Oestreich, Gerhard, Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547-1606). Der Neostoizismus als politische Bewegung. (=Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 38). Göttingen, 1989, S. 93-98.
[5] PAPY, Jan: „Justus Lipsius“, in: Edward N. Zalta und Uri Nodelman (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2023 Edition), , https://plato.stanford.edu/archives/fall2023/entries/justus-lipsius/. i. V. m. Jacoby, Daniel: „Valerius, Cornelius“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 39, 1895, S. 469-470, URL zur Online-Version: https://www.deutsche-biographie.de/pnd100568661.html#adbcontent. (10/01/2025).
[6] PAPY, „Lipsius“ und Encyclopaedia Britannica, s.v. “Antoine Perrenot de Granvelle” (2024, September 17), URL: https://www.britannica.com/biography/Antoine-Perrenot-Cardinal-de-Granvelle. (10/01/2025).
[7] L. Annæi Senecæ Philosophi Opera, Qvæ Exstant Omnia / A Ivsto Lipsio emendata, et Scholijs illustrata. Antwerpen, 1605, digitalisiert unter: https://digital.ub.uni-paderborn.de/ihd/content/titleinfo/3432371.
[8] Papy. „Lipsius“.
[9] Arnim Regenborgen und Uwe Meyer (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg, 1998, S. 633, s.v. „Stoa“.
[10] LIPSIUS, Justus, De Constantia (1.1). (Aus. d. Lat. v. Florian Neumann), Mainz, 1998, S. 9.
[11] PAPY, „Lipsius“.
[12] LIPSIUS, De Constantia (1.18-1.19), S. 127-147.
[13] Ebd. S. 127.
[14] Ebd. S. 129-131.
[15] Ebd. S. 131. Im Original: “ad Stoïcos meos venio (non enim dissimul. in pretio & amore mihi ea secta)“.
[16] Ebd.
[17] Sellars, John, „Stoic Fate in Justus Lipsius’ De Constantia and Physiologia Stoicorum“, in: Journal of the History of Philosophy, Nr. 52/4, 2014, 653-674, hier S. 658-663.
[18] LIPSIUS, De Constantia (1.18), S. 133: “Illeipse omnium conditor ac rector scripsit quidem Fata, sed sequitur: Semper paret, semel iussit“.
[19] Sellars: Stoic Fate. S.662-669.
[20] Papy: Lipsius.
[21] Brooke, Christopher, Philosophic Pride. Stoicism and Political Thought from Lipsius to Rousseau, Princeton, 2012, S. 18.
[22] Germino, Dante: Rezension v. Robert Bireley: The Counter-Reformation Prince: Anti-Machiavellian or Catholic Statecraft in Early Modern Europe. Chapel Hill 1990.´, in: The Review of Politics, Nr. 53/3, 1991, S. 563-565. Siehe auch die Rezension von Harvey Mansfield in: The American Historical Review, Nr. 97/1, 1992, S. 182.
[23] Michael Stolleis: Rezension v. Bireley: The Counter-Reformation Prince. In: The Journal of Modern History 65, H. 1 (1993). S. 197-201. S. 198.
[24] Bireley: The Counter-Reformation Prince. S. 81. Zitiert nach: Brooke: Philosophic Pride. S. 19.
[25] Brooke, Philosophic Pride, S. 29.
[26] Ebd.
[27] HOERSTER, Norbert, Klassische Texte der Staatsphilosophie, München, 2004 (1976), S. 77f.
[28] Ebd. S. 76.
[29] OESTREICH, Antiker Geist, S. 93-104.
[30] PAPY, “Lipsius”.
[31] OESTREICH, Antiker Geist, S. 93-104.
[32] Meumann, Markus, „Militärische Revolution“, in: F. Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit Online, URL: https://doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_311411 (10/02/2025).
[33] Oestreich, Gerhard, Neostoicism and the Early Modern State, Cambridge, 1982, S. 77.
[34] Hobbes, Thomas, Leviathan. (Hrsg. v. Peter Cornelius Mayer-Tasch), (Rowohlt Klassiker der Literatur und Wissenschaft. Philosophie der Neuzeit. Bd. 6), München, 1965, S. 140f.
[35] Hobbes, Leviathan, S. 83, 102 u. 142.
[36] LIPSI, Ivsti (=Justus Lipsius), Monita et Exempla Politica. Libri Dvo. Qui Virtvtes et Vitia Principum spectant, Antwerpen, 1725, S. 123 : „Mali doctores, qui à legibus eximunt: qui cum Caligulâ censent, Omnia ipsi, & in omnes licere. Siue cum Sallustiano Memmio: Impunè quidlibet facere, id est regem esse. […] Ius summum, facultate & copiâ commodandi, non securitate peccandi ex periris.“
[37] Lipsius, De Constantia (1.1), S. 11.
[38] Ebd., S. 109.
[39] Siehe dazu: Ottmann, Henning, „Was ist neu im Denken Machiavellis“, in: In: Herfried Münkler, Rüdiger Voigt und Ralf Walkenhaus (Hrsg.), Demaskierung der Macht. Niccolò Machiavellis Staats- und Politikverständnis (Staatsverständnisse, Bd.5), Baden-Baden, 2013, S. 157-168.
[40] Voigt, Rüdiger, „Niccolò Machiavelli und die Staatsräson“, in: Herfried Münkler et al. (Hrsg.), Demaskierung der Macht (wie Anm. 39), 35-66, S. 52.
[41] Ebd.
[42] Ottmann, „Was ist neu“, S. 157-168 u. 157.
[43] Bireley, The Counter-Reformation Prince, S. 81. (Zitiert nach: Brooke, Philosophic Pride, S. 19).
[44] Epiktet: Anleitung zum glücklichen Leben. Encheiridion. Handbuch der Moral (19). (Aus d. Griech. v. Rainer Nickel), Düsseldorf, 2006, S. 27.