Martin Margiela und die belgische Designszene

Martin Margiela ist als das „Phantom der Modebranche“[1] bekannt, da er seine Mode und nicht sich selbst in den Fokus stellt. Der am 9. April 1957 in Genk geborene[2] belgische Designer gibt selbst keine Interviews und tritt auch bei seinen Modeschauen nicht auf, er ist für die Medien gewissermaßen unsichtbar[3]. Auch seine Models laufen anonym über den Laufsteg, indem ihnen der Pony das halbe Gesicht verdeckt oder ihnen mit anderen Materialien das Gesicht verhüllt wird. Zusätzlich werden seine Kleidungsstücke nicht beschriftet, d.h. es gibt kein Etikett, welches auf ein Designerstück hinweist.[4] Sein Label namens „Maison Martin Margiela“ gründete er 1988 zusammen mit Jenny Meirens. Seit 1994 wurden seine Kollektionen erstmals in Modestädten wie Mailand, New York, Tokio und London international vorgeführt[5].

In den 1990er-Jahren gehörte der belgische Designer Martin Margiela zu den Hauptvertretern des Dekonstruktivismus, zusammen mit der belgischen Designerin Ann Demeulemeester[6], welche beide zuvor an der Antwerpener Akademie der Schönen Künste studierten[7]: „Die belgischen Avantgardisten übten sich in minimalistischer Dekonstruktion: Martin Margiela legte den Konstruktionscharakter der Mode offen, indem er ihr Innerstes nach außen kehrte“[8]. Margiela trennt Kleidungsstücke auf und näht sie in einer neuen Kombination aneinander, die nicht den westlichen Schönheitsidealen entsprechen[9]. Der Fokus des Designers liegt dabei nicht auf dem Endprodukt, sondern auf dem Prozess der Herstellung, bei dem die Formen eine wichtigere Rolle spielen als die Farben. Für viele Menschen mag sein Dasein als Designer zweifelhaft sein, da er durch das Recyceln von Kleidungsstücken mit manchen Regeln der Modewelt bricht[10]. So wurden beispielsweise in der Frühling-/Sommer-Kollektion 1999 schwarze Lederhandschuhe zuerst in Portemonnaies umgewandelt, welche dann letztendlich als Halskette getragen wurden[11]. Second-Hand-Kleidung ist in der gehobenen Modeszene meist noch immer negativ konnotiert und wird mit der niedrigeren Schicht assoziiert, doch der Modeschöpfer lässt daraus ein wertvolles Designerstück werden[12]. Margiela verweilt nicht bei der originalen Funktion, sondern lässt immer Neues daraus entstehen[13]. Ein ebenfalls unkonventioneller Ansatz, welcher bei dem Zuschauer für Verwirrung sorgte, war sein Ansatz der „invertierten Zeit“, welchen er in seiner Frühlings-/Sommer-Kollektion 1996 präsentierte. Er ließ die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft verschmelzen, indem er Elemente aus seinen alten Kollektionen nahm, sie in seine neuen Schöpfungen integrierte und damit neu inszenierte. Auf den ersten Blick erzeugte das einen wundersamen Effekt, da nicht klar ersichtlich war, ob es sich um ein tatsächliches Vintage-Kleidungsstück handelte, oder nicht.[14]

1990 entwarf der Modeschöpfer eine Kollektion, bei der der Futterstoff des Kleidungsstücks nach Außen zeigte und die Nähte nicht zusammengenäht, sondern mit braunem Klebeband zusammengehalten wurden[15]. Fünf Jahre später brachte er eine Kollektion heraus, die an übergroße Puppen erinnerte. Die Frauenkleidung wies Ähnlichkeiten zu der Barbie-Kleidung auf und die Herren wurden nach dem Vorbild der Action-Figur G.I. Joe gekleidet. Jedes Detail wurde dabei maßstabsgetreu vergrößert, sodass es große, sichtbare Nähte und riesige Reißverschlüsse gab.[16]

Im Jahr 1997 schockierte Martin Margiela mit einer Ausstellung seiner Kollektion in Rotterdam[17], die in Zusammenarbeit mit einem Mikrobiologen entstand[18]. Bis zu diesem Zeitpunkt kreierte der Belgier 18 Kollektionen; aus jeder dieser Kollektion suchte er sich ein Modell aus und ließ es erneut aus weißem Stoff fertigen. Die Kleidungsstücke wurden in einem nächsten Schritt mit grünem Schimmel, pinkfarbenen Pilzen und gelben Bakterien besprüht, sodass die Kleidungsstücke zerfressen wurden. Der Name der Ausstellung lautete (9/4/1615): Die 9 steht für die bisherigen 9 Jahre, in denen der Designer Kollektionen entworfen hat, die Bakterien brauchten 4 Tage für das Wachstum und sorgten letztendlich dafür, dass sich die Ausstellungsstücke in 1615 Stunden selbst auflösten.[19]

– von Juliane Bardosseck und Larissa Schneider –

Dieser studentische Glossar-Eintrag ist im Rahmen des Romanistik-Seminars "Das BelgienNet - medienpraktische Perspektiven auf die Kultur Belgiens" im Sommersemester 2021 entstanden. Hier finden Sie die französische Fassung des Glossar-Eintrags mit begleitender Audiodatei auf Französisch.

Anmerkungen:

[1]Werle, Simone: 50 Fashion Designer, die man kennen sollte, München: Prestel 2010, S. 121.

[2]Vgl. Buxbaum, Gerda (Hrsg.): Mode! Das 20. Jahrhundert, München: Prestel 1999, S. 181.

[3]Vgl. Werle, Simone: 50 Fashion Designer, die man kennen sollte, S. 121.

[4]Vgl. ebd., S. 122.

[5]Vgl. Buxbaum, Gerda (Hrsg.): Mode! Das 20. Jahrhundert, S. 181.

[6]Vgl. Loschek, Ingrid: „Dekonstruktion“, in: Buxbaum, Gerda (Hrsg.): Mode! Das 20. Jahrhundert, München: Prestel 1999, S. 146.

[7]Vgl. Buxbaum, Gerda (Hrsg.): Mode! Das 20. Jahrhundert, S. 181.

[8]Thiel, Erika: Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig: Henschel 2010, S. 456.

[9] Vgl. Werle, Simone: 50 Fashion Designer, die man kennen sollte, S. 122.

[10]Vgl. Granata, Francesca: Experimental Fashion: Performance Art, Carnival and the Grotesque Body, London: I.B. Tauris & Co. Ltd; Bloomsbury Publishing 2019, S. 97.

[11]Vgl. ebd., S. 100.

[12]Vgl. Evans, Caroline: „The Golden Dustman: A critical Evaluation of the Work of Martin Margiela and a Review of Martin Margiela Exhibition (9/4/1615)”, in: McNeil, Peter (Hrsg.): The Twentieth Century to Today. Fashion: Critical and primary sources, Volume 4, Oxford: Berg 2009, S. 204f.

[13]Vgl. Granata, Francesca: Experimental Fashion: Performance Art, Carnival and the Grotesque Body, S. 100.

[14]Vgl. ebd., S. 109.

[15]Vgl. Buxbaum, Gerda (Hrsg.): Mode! Das 20. Jahrhundert, S. 181.

[16]Vgl. Granata, Francesca: Experimental Fashion: Performance Art, Carnival and the Grotesque Body, S. 88.

[17]Vgl. Loschek, Ingrid: „Dekonstruktion“, S. 146.

[18] Vgl. Evans, Caroline: „The Golden Dustman: A critical Evaluation of the Work of Martin Margiela and a Review of Martin Margiela Exhibition (9/4/1615)”, S. 201.

[19]Vgl. Evans, Caroline: „The Golden Dustman: A critical Evaluation of the Work of Martin Margiela and a Review of Martin Margiela Exhibition (9/4/1615)”, S. 202.

Quellenverzeichnis

Evans, Caroline: „The Golden Dustman: A critical Evaluation of the Work of Martin Margiela and a Review of Martin Margiela Exhibition (9/4/1615)”, in: McNeil, Peter (Hrsg.): The Twentieth Century to Today. Fashion: Critical and primary sources, Volume 4, Oxford: Berg 2009, S. 201 – 210.

Granata, Francesca: Experimental Fashion: Performance Art, Carnival and the Grotesque Body, London: I.B. Tauris & Co. Ltd; Bloomsbury Publishing 2019.

Loschek, Ingrid: „Dekonstruktion“, in: Buxbaum, Gerda (Hrsg.): Mode! Das 20. Jahrhundert, München: Prestel 1999, S. 146 - 147.

Werle, Simone: 50 Fashion Designer, die man kennen sollte, München: Prestel 2010.