Als 1369 der französische Königssohn Philipp der Kühne nach langen und umständlichen Verhandlungen, bei denen auch die englische Krone ihr Interesse anzeigte, die flämische Erbprinzessin Margarete von Male in der St.-Bavo-Abtei zu Gent heiratete, brach eine entscheidende Epoche für die Geschichte des zukünftigen Belgiens an. Der ehrgeizige und jüngere Zweig der französischen Königsdynastie der Valois fasste somit Fuß in den (südlichen) Niederlanden, denn die Vermählung mit Margarete brachte ihm nicht nur die Grafschaft Flandern ein, sondern auch die Grafschaft Artois, die Freigrafschaft Burgund (Franche-Comté) und die Herrschaften Rethel und Mecheln. Außerdem kamen die seit 1312 der französischen Krone gehörenden flämischen Kastellaneien Lille, Douai und Orchies wieder an die Grafschaft Flandern.

Wenn ein prominenter Historiker wie Henri Pirenne in der burgundischen Periode einen Vorboten für die spätere politische Einigung sah – die 1830 in die belgische Unabhängigkeit münden sollte – dachte er in erster Linie an die weitere territoriale Expansion, welche im Laufe des 15. Jahrhunderts erfolgen sollte. Aber auch die institutionellen Eingriffe, die die Herzöge nach französischem Modell durchführten, waren für Pirenne ausschlaggebend. Der wichtigste Eingriff fand bereits unter Philipp dem Kühnen (1384-1404), dem ersten Herzog statt. Nachdem er im Dezember 1385 einen Frieden mit der aufständischen Stadt Gent geschlossen hatte, setzte er Anfang 1386 in Lille nach französischem Modell einen Rat ein, welcher in den für die Rechtsprechung zuständigen Rat von Flandern und eine für die Finanzen zuständige Rechenkammer aufgeteilt wurde. Dieses Modell wurde später im Herzogtum Brabant und in der Grafschaft Holland-Seeland mit den Rechenkammern von Brüssel beziehungsweise Den Haag wiederholt. Vor allem die Rechenkammern sollten als Kontrollorgan und Archiv für die weitere Entwicklung Burgunds entscheidend sein, denn sie haben das Gedächtnis und das weitere Funktionieren eines „burgundischen Staates“ geradezu ermöglicht.

Die beiden ersten Herzöge, Philipp der Kühne und Johann Ohnefurcht (1404-1419), waren stark in den Machtkampf am französischen Hof verwickelt. Vor allem Johann Ohnefurcht spielte eine zentrale Rolle in dem erbitterten Streit zwischen den Burgundern und den Armagnaken (wie sich die Partei des 1407 auf Johanns Befehl ermordeten Herzogs von Orleans nannte). Für die burgundischen Herzöge ging es um mehr als um politisches Ansehen und Einfluss auf den geisteskranken französischen König Karl VI. Besonders die beeindruckende Menge an Geld, die sie sich aus der französischen Staatskasse zukommen ließen, war ausschlaggebend für ihre Politik. Die Gelder erlaubten es den Herzögen, ihre Untertanen - in erster Linie die der flämischen Städte – nur mäßig zu besteuern, wodurch sie hier den sozialen und politischen Frieden erkauften.

Die burgundischen Besitzungen beim Tode Karls des Kühnen 1477 (Marco Zanoli, auf Wikipedia)

Nach dem Mord an Johann Ohnefurcht 1419 in Montereau, der im Auftrag des französischen Dauphin, des späteren Karl VII. geschah, entschied sich sein Nachfolger, Herzog Philipp der Gute (1419-1467), für eine Allianz mit dem englischen König (Heinrich V.) gegen Frankreich, die er erst 1435 im Rahmen der europäischen Friedenskonferenz zu Arras aufgab, um mit Frankreich einen fragilen Frieden zu schließen. In der Zwischenzeit verlagerte sich der Schwerpunkt der burgundischen Besitzungen von den südlichen Gebieten (d.h. das eigentliche Herzogtum und die Freigrafschaft Burgund) in die Gebiete der südlichen Niederlande. Philipp der Gute, bereits Graf von Flandern und Artois, wurde nun auch Herzog von Brabant und Luxemburg sowie Graf vom Hennegau und von Holland-Seeland, womit er Stück für Stück Gebiete erlangte, die zum Heiligen Römischen Reich gehörten. Nach einiger Zeit sah er auch die Zeit gekommen, mit der wichtigsten internen Oppositionskraft abzurechnen, den großen flämischen Städten. Siege über Brügge (1438) und Gent (1453) erlaubten es Philipp, sich auf eine Prestigepolitik zu konzentrieren, wodurch er einen Platz neben den Größten seiner Zeit, dem französischen König und dem deutschen Kaiser, einnehmen konnte.

Mit der Zeit träumten die burgundischen Herzöge von einem Königstitel. Philipps Sohn und Nachfolger Karl der Kühne (1467-1477) sollte dessen Politik bewusst weiterführen, wobei er keiner Auseinandersetzung mit den Städten aus dem Weg ging. Den absoluten Tiefpunkt dieser Konfrontationspolitik bildete die Verwüstung Lüttichs 1468. Widerstand rief seine aggressive Politik auch im Reich hervor (besonders während der Belagerung Neuss‘). Letztendlich musste er sich der Allianz der Schweizer Eidgenossen und des französischen Königs Ludwig XI. beugen. 1477 kam Herzog Karl in einer Schlacht bei Nancy ums Leben.

Karls Alleinerbin Maria von Burgund (1477-1482) musste der Unzufriedenheit der Untertanen, besonders in den Niederlanden, die Stirn bieten. Die umfassenden Privilegien, die sie den niederländischen Generalständen zugestehen musste, das sogenannte Große Privileg, wurde bald zu einer Sammlung von wichtigen, förmlich verfassungsmäßigen Texten, die eine große Rolle beim Aufstand der Niederlande gegen den spanischen König Philipp II. in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts spielen sollten. Nach dem ruhmlosen Ende Karls 1477 nahm die französische Krone das Herzogtum Burgund wieder in Besitz. Maria rettete ihren Thron durch die Ehe, die ihr Vater mit dem Sohn des römischen Kaisers Friedrich III., Maximilian von Österreich, ausgehandelt hatte. Nach ihrem frühen Tod 1482 geriet auch Maximilian in Konflikt mit seinen Untertanen, sowohl mit den traditionell kritisch eingestellten Städten als auch mit dem Adel der südlichen Niederlande. Seine Vorgehensweise hatte in erster Linie negative Folgen für die großen flämischen Städte. Sie wurde später auch von seinen habsburgischen Nachfolgern (vor allem von Karl V. und Philipp II.) aufgegriffen, die sich alle nachdrücklich auf ihre burgundischen Vorgänger beriefen.

Statuen Philipps und Karls am Grabmonument Kaiser Maximilians I. zu Innsbruck (Rijksmuseum, Amsterdam)

Die burgundischen Herzöge haben nicht nur für eine politische Vereinigung der Niederlande gesorgt. Ihre „Kulturpolitik“ und kulturelle Ausstrahlungskraft, die Johan Huizinga in seinem klassischen Werk Herbst des Mittelaltersvon 1919 international bekannt gemacht hat,  haben auch zu einer bis heute ungebrochenen Faszination für die burgundische Periode der Geschichte der alten Niederlande beigetragen. Diese kulturelle Blüte verdankte sich dem Wirken einer ehrgeizigen Dynastie im Zusammenspiel mit einer außerordentlich leistungsfähigen städtischen Wirtschaft, welche von der ebenfalls ehrgeizigen Mittelklasse politisch mündiger Handwerker getragen wurde.

- Prof.  Dr. Marc Boone, Universität Gent -

(Übersetzung Donato Morelli)