Wer in der Öffentlichkeit von den Beziehungen zwischen Belgien und Deutschland spricht, erzählt zumeist eine Erfolgsgeschichte: Zwei europäische Partner mit vielen gemeinsamen Interessen und intensiven Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und kaum je politischen Streitfragen. Dass Belgien nach zwei deutschen Besatzungen in den beiden Weltkriegen seit dem Ende der 1940er Jahre zu den ersten Ländern gehörte, die eine Annäherung an Westdeutschland suchten, darf dabei nicht unerwähnt bleiben und rechtfertigt die Erzählung vom Erfolg schon fast von selbst.
Wer sich kritisch gibt, gießt etwas Wasser in den Wein und bemerkt, dass zwar die Beziehungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Eliten gut sind, dass man jedoch eigentlich viel zu wenig über den Nachbarn wisse. Auf deutscher Seite stellt sich die Frage nach der Asymmetrie des Verhältnisses zu den kleinen Nachbarländern. Für Belgien wird dies noch verstärkt durch die Wahrnehmung eines Staates, dessen Ende vermeintlich kurz bevorsteht. Auf belgischer Seite richtet sich der Blick eher auf den Nachbarn, mit dem man eine Sprachgruppe teilt, also – von den 80.000 Bewohnern der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens („Ostbelgien“) einmal abgesehen – die Niederlande und Frankreich.
Nichts davon ist falsch, doch sagt es letztlich wenig über die Vielschichtigkeit der Beziehungen zwischen Belgien und Deutschland aus. Um die vielfältigen Verflechtungen der beiden Länder im Ansatz zu erfassen, hilft ein kurzer Blick in die Geschichte.
Langes 19. Jahrhundert
Der Bruch, den der deutsche Überfall im August 1914 für das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn bedeutet, kann kaum überschätzt werden. Preußen war seit dem Londoner Vertrag von 1839 immerhin eine der Garantiemächte der belgischen Neutralität gewesen. Auch wenn die geopolitische Konstellation nach 1871 dafür gesorgt hatte, dass viele Belgier dem aufstrebenden Kaiserreich mit Vorsicht, teils auch mit Misstrauen begegneten und es beileibe nicht nur positive Deutschlandbilder gab, existierten vielfältige Formen des grenzüberschreitenden Miteinanders zwischen zwei dynamischen Industriegesellschaften.
Das Selbstbild vieler belgischer Eliten, die ihr Land als terre d’entre-deux zwischen dem germanischen und romanischen Kulturraum betrachteten, gehörte ebenso dazu, wie die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, die vor allem ab den 1880er Jahren zunehmend von Wissens-, Kapital- und Technologietransfer in beide Richtungen geprägt waren.
Die belgische Universitätsgeschichte im 19. Jahrhundert kann nicht ohne den Einfluss durch deutsche Wissenschaftler und durch das Humboldtsche Modell geschrieben werden. Den zunehmenden Einfluss der deutschen Sprache förderten zahlreiche deutsche Haus- und Kindermädchen in großbürgerlichen Haushalten. Doch blieben auch Stereotype weit verbreitet – ablesbar beispielsweise an den Namen von Gaststätten bei der Internationalen Ausstellung in Lüttich im Jahr 1905: „Walhalla“, „Trinkhalle“, usw.
Im preußisch-belgischen Grenzraum war die Staatsgrenze zwar ein pass- und zollrechtlicher Faktor, doch waren soziale, religiöse und wirtschaftliche Grenzüberschreitungen gang und gäbe.
Erster Weltkrieg
Es verwundert daher kaum, dass im August 1914 die Propaganda vom deutschen Einmarsch in Belgien als Reaktion auf das Vorrücken der Franzosen vor allem auf der deutschen Seite der Grenze in erheblichem Maße verfing. Auf der belgischen Seite sah die Situation anders aus: das deutsche Ultimatum vom 2. August 1914, das den Durchzug der deutschen Armee verlangt hatte, wurde von König und Regierung zurückgewiesen. Die belgischen Truppen leisteten den einrückenden deutschen Soldaten unerwartet heftigen Widerstand. Der Vormarsch der Deutschen wurde von brutalen Maßnahmen gegenüber der belgischen Zivilbevölkerung begleitet, die von der deutschen Seite als Vergeltungsmaßnahmen für vermeintliche „Franktireur“-Angriffe verteidigt wurden und über 6.000 Opfer forderten.
Belgien wurde bis auf einen schmalen Küstenstrich besetzt und als Generalgouvernement verwaltet. Die deutsche Besatzung war vor allem um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Integration der belgischen Industrie in die Kriegswirtschaft und die kulturpolitische Begünstigung Flanderns („Flamenpolitik“) bemüht. Ein kleiner radikaler Teil der flämischen Bewegung – rund 15.000 Personen – kollaborierte aktiv mit dem Besatzer. Neben dem Kampf gegen Widerständler war es vor allem die ab November 1916 durchgeführte Deportation von 120.000 Belgiern zur Zwangsarbeit in das Reich, die die Zurückweisung der Besatzung beförderte. Nach Kriegsende sollte sich dies in heftigen antideutschen Ressentiments äußern.
Durch den Versailler Vertrag erweiterte sich das belgische Territorium um einige deutschen Gebiete. Öffnen Sie diese Karte, um Näheres über den veränderten Grenzverlauf zu erfahren: EMS-1920-Brüll
Zwischenkriegszeit
Das belgisch-deutsche Verhältnis der Zwischenkriegszeit wurde in erheblichem Maße von den Kriegsfolgen bestimmt: Wirtschaftliche und finanzielle Reparationsfragen, die im Versailler Vertrag nicht abschließend geregelt wurden, der Streit um die „Franktireur-Frage“, die belgische Abkehr von der Neutralität und die Beteiligung an der Besatzung im Rheinland und im Ruhrgebiet. Dazu kamen die Nachwehen der territorialen Vergrößerung Belgiens mit der von Deutschland nie hingenommenen Abtretung der beiden Kreise Eupen und Malmedy. Nach 1933 verstärkte das NS-Regime die Bemühungen, Belgien aus dem Generalstabsabkommen mit Frankreich herauszulösen. Nachdem die belgische Regierung 1936 die so genannte Unabhängigkeitspolitik ausrief, lieferte das Reich 1937 eine Garantieerklärung für die belgische Souveränität, die jedoch spätestens im Mai 1940 nur noch Makulatur war.
Zweiter Weltkrieg
Die zweite deutsche Besatzung Belgiens innerhalb eines Vierteljahrhunderts folgte ähnlichen Prämissen wie im Ersten Weltkrieg. Sowohl Kollaboration (über 50.000 Verurteilungen ergingen nach 1945) als auch Widerstand (rund 150.000 Personen wurden als Mitglieder des Widerstands anerkannt) nahmen im Vergleich deutlich zu, blieben jedoch Randerscheinungen. Der übergroße Teil der belgischen Bevölkerung verblieb in den Grautönen des Besatzungsalltags.
Die nationalsozialistische Verfolgungspolitik forderte zahlreiche Opfer: von den etwa 70.000 Juden, die im Mai 1940 in Belgien lebten, wurden ab dem Sommer 1942 über 25.000 nach Auschwitz deportiert. 354 Sinti und Roma erlitten dasselbe Schicksal.
Im „Generalprozess“, den die belgischen Strafverfolgungsbehörden 1950/1951 u.a. gegen den Militärbefehlshaber Alexander von Falkenhausen und den Chef der Militärverwaltung Eggert Reeder führten, kam dem Mord an den Juden jedoch nur eine untergeordnete Bedeutung zu, vielmehr ging es um die Repressionsmaßnahmen gegenüber Mitgliedern des Widerstands. Als Folge der Nachkriegsprozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher und belgische Kollaborateure wurden in Belgien von 1.600 Todesurteilen 242 vollstreckt – exakt die Anzahl von Geiseln, die die deutsche Militärverwaltung als „Vergeltungsmaßnahme“ für Widerstandsakte hatte hinrichten lassen. Mit Pieter Lagrou (2006) lässt sich die belgische Haltung gegenüber Deutschland in der Nachkriegszeit als „eine Frage der moralischen Überlegenheit“ charakterisieren – die Auffassung, dass man nach zwei Besatzungen besser (als die Alliierten) wisse, wie mit den Besiegten umzugehen sei, war weit verbreitet.
Belgien und die Besatzung Deutschlands
Am 8. Mai 1945 befanden sich rund 75.000 belgische Soldaten auf deutschem Boden. Als Teil der alliierten Truppen nahmen sie an der Besetzung des besiegten Deutschlands teil. Diese Militärpräsenz war in den Augen der belgischen Regierung das geeignete Mittel, um ihre konkreten Vorstellungen einer Nachkriegsordnung durchzusetzen. Wenn dies auch letztlich scheiterte, entwickelten sich die belgischen Truppen in Deutschland zu einem Gradmesser der belgisch-deutschen Beziehungen: die Belgische Besatzungsarmee wurde 1952 zu den Belgischen Streitkräften in Deutschland, die BSD bzw. FBA, deren Rolle nunmehr über Verträge, vor allem im Rahmen der NATO, geregelt wurde. Dass die belgischen Behörden im selben Jahr als letzte der ausländischen Streitkräfte Ehen zwischen Offizieren und deutschen Frauen erlaubten, zeigt jedoch auch, wie schwierig die deutsch-belgische Annäherung auf sozialer Ebene sein konnte.
Blockbildung im Westen und europäische Integration
Politisch waren die belgischen Regierungen auf den ersten Blick weniger zurückhaltend: Die Benelux-Länder unterstützten die Gründung der Bundesrepublik und Belgien war mit Dänemark im März 1951 das erste Land, das mit der jungen Bundesrepublik diplomatische Beziehungen aufnahm und rasch in Verhandlungen um einen Ausgleichsvertrag für die Kriegsfolgen eintrat. Doch sollte man sich nicht täuschen: in den Augen der Brüsseler Regierungen war dies nicht zuletzt Sicherheitspolitik. Die Westintegration der Bundesrepublik erwies sich als der beste Weg, eine neue deutsche Aggression gegenüber den Nachbarn zu verhindern – diese Sichtweise konvergierte mit der Strategie Konrad Adenauers, der in der Westbindung das beste Mittel zur politischen Gleichstellung erkannte. Dem Historiker Michel Dumoulin (1998) zufolge, war das Verhältnis Belgiens zu Deutschland Ende der 1950er Jahre – im Kontext des Kalten Krieges und der beginnenden Europäischen Integration – von „Argwohn“ in „konstruktives Misstrauen“ umgeschlagen.
Mental waren die Folgen der beiden Weltkriege in Belgien immer noch stark präsent, wenn auch das so genannte Wirtschaftswunder Respekt hervorrief. Vier bilaterale Verträge regelten schließlich die so genannte Kriegsfolgenfrage: (1) Der deutsch-belgische Ausgleichsvertrag vom September 1956 regelte Grenzfragen – und beendete so offiziell den Konflikt um das 1920 abgetretene Gebiet von Eupen-Malmedy –, legte erste Entschädigungen für NS-Opfer in Belgien fest und beinhaltete ein Kultur- sowie ein Doppelbesteuerungsabkommen. (2) Im Rahmen der so genannten Globalabkommen schlossen die Bundesrepublik und Belgien 1960 einen Vertrag, der Zahlungen in Höhe von 80 Millionen DM an Belgien vorsah, um NS-Opfer zu entschädigen, wobei die Festlegung der entsprechenden juristischen Kategorien eine Angelegenheit der belgischen Seite war. (3) 1962 überwies die Bundesrepublik 30 Millionen DM zur Entschädigung von verletzten und versehrten ehemaligen Wehrmachtsoldaten aus Eupen-Malmedy, wobei die juristische Kategorisierung auch hier den belgischen Behörden oblag. (4) 1973 erfolgte eine erneute Zahlung von 13,5 Millionen DM im Rahmen von Nachverhandlungen zum Vertrag von 1962.
Belgien und die „neue Ostpolitik“
Im Rahmen der vom Kalten Krieg geprägten internationalen Beziehungen wurde das Verhältnis vertrauensvoller. Zwar wurden deutsche Initiativen zur Verständigung mit den osteuropäischen Ländern von politischen Akteuren in Belgien, die den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen erlebt hatten, immer noch zunächst misstrauisch beäugt, doch folgten die Regierungen danach zumeist dem deutschen Kurs. Ein gutes Beispiel hierfür ist die „neue Ostpolitik“ Willy Brandts. Aus der anfänglichen Skepsis gegenüber deutschen Alleingängen resultierte Ende 1972 nach dem deutsch-deutschen Grundlagenabkommen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Belgien und der DDR – Belgien war somit das erstes Mitgliedsland der NATO, das einen Vertrag mit der DDR abschloss.
Während Besuche auf Regierungsebene seit den 1960er Jahren schon aufgrund der Rolle Brüssels in der Europapolitik immer häufiger wurden, weilte König Baudouin 1971 erstmals zu einem Staatsbesuch in der Bundesrepublik. Bundespräsident Gustav Heinemann kam 1974 zu einer Visite nach Belgien. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verdichteten sich die Anzeichen für einen belgischen Staatsbesuch in der DDR. Dazu kam es jedoch nicht mehr.
Belgien und die deutsche Einheit
Die Haltung der belgischen politischen Kreise gegenüber der Aufhebung der staatlichen Teilung Deutschlands und der Einheit ist rasch skizziert: kein großer Enthusiasmus, dafür Pragmatismus und Bestehen auf dem Grundsatz, dass ein geeintes Deutschland weiterhin fester Bestandteil der westlichen Bündnissysteme und vor allem der Europäischen Gemeinschaft sein sollte. Laut Eurobarometer folgte die belgische Bevölkerung dieser Politik und befürwortete die Einigung mit im Vergleich zu den Niederlanden und Frankreich überdurchschnittlichen Zustimmungswerten: 71 Prozent dafür (dagegen: 15 Prozent, ohne Meinung: 14 Prozent) im November 1989, 61 Prozent dafür (dagegen: 19 Prozent, ohne Meinung: 20 Prozent) im Mai 1990 und 69 Prozent dafür (dagegen: 16 Prozent, ohne Meinung: 15 Prozent) im Oktober 1990. Ein Jahr später erachteten nur noch 50 Prozent der Belgier die Folgen der Einigung für ihr Land als positiv, wohingegen 31 sie als negativ einschätzten. Diese Zahlen können als Hinweis darauf gesehen werden, dass das „deutsche Dilemma“ (Andreas Rödder, 2013) auch in Belgien präsent war und (bis heute) ist. Einerseits ist eine Führungsrolle Deutschlands in Europa eine akzeptierte geopolitische Tatsache, andererseits wird sie mit Vorsicht und Misstrauen beäugt und dies durchaus noch mit Verweisen auf die Vergangenheit.
Belgien und Deutschland in der Gegenwart
Die bilateralen politischen Beziehungen sind mittlerweile vor allem in den multilateralen Raum, vor allem in den Kontext der Europäischen Union eingebettet. Die belgischen Teilstaaten haben zudem seit der vierten Staatsreform (1993-1994) erhebliche Befugnisse bei der Gestaltung ihrer Außenbeziehungen. Die Wallonische Region und die Deutschsprachige Gemeinschaft haben beispielsweise in einem Abkommen festgehalten, dass letztere den gemeinsamen Vertreter der beiden Körperschaften in der belgischen Botschaft in Berlin stellt.
Zudem verweisen auch die Wirtschaftsbeziehungen auf enge Verflechtungen. Im Jahr 2017 beliefen sich die deutschen Direktinvestitionen in Belgien auf 33,5 Mrd. Euro, die belgischen Direktinvestitionen in Deutschland auf 9,2 Mrd. Euro. Belgiens Handelsbilanz mit Deutschland ist fast ausgeglichen: 2018 betrugen die deutschen Ausfuhren nach Belgien 44,4 Mrd. Euro (2017: 44,3 Mrd.), die Einfuhren 46,1 Mrd. Euro (2017: 40,3 Mrd.).
Demgegenüber verweist die Tatsache, dass nur noch ein verschwindend geringer Anteil von belgischen Schülern die deutsche Sprache erlernt, auf eine zunehmende kulturelle Indifferenz gegenüber dem deutschen Nachbarn, die im französischsprachigen Belgien allerdings verbreiteter ist als in Flandern.
-Von Dr. Christoph Brüll, Universität Luxemburg-