Der nachfolgende Artikel untersucht die stark ausgeprägten wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den drei belgischen Regionen Flandern, Wallonie und Brüssel. Trotz der historischen Vorrangstellung der Wallonie auf diesem Gebiet, nimmt Flandern seit Mitte des letzten Jahrhunderts die führende Rolle in der belgischen Wirtschaft ein. Dies lässt sich an aktuellen Kennzahlen wie dem Bruttoinlandsprodukt oder der Arbeitslosenquoten quantitativ belegen. Gleichzeitig wird sich in diesem Artikel auf Mobilitätstrends bezogen, welche das Phänomen des Pendelns im Arbeitskontext, besonders für Wallonen, deutlichmachen. Diese Entwicklung verdeutlicht die zunehmende Bedeutung sprachlicher Kompetenzen, vor allem des Niederländischen, für die Integration in den belgischen Arbeitsmarkt. Trotz der wirtschaftlichen Notwenigkeit bleibt die Nachfrage nach einer Bilingualität FR-NL gering, was strukturelle und bildungspolitische Fragen zur regionalen Sprachenpolitik aufwirft.
Trotz seiner überschaubaren Größe findet man in Belgien erhebliche Diskrepanzen, was die Wirtschaftskraft der einzelnen Regionen angeht. Betrachtet man einige wirtschaftliche Schlüsselwerte Flanderns, Walloniens und Brüssels, so ergibt sich nach Claude Javeau das folgende klare Kontrastbild: „[S]eit 1964 wird die belgische Wirtschaft größtenteils von Flandern dominiert“[1]. Dies war jedoch nicht immer so. Zum Zeitpunkt der Gründung des Königreichs Belgien (1831) herrschte Französisch sowohl als offizielle Sprache in der Verwaltung und der Bildung als auch in den Führungsschichten in ganz Belgien vor.[2] Die Wallonie gilt als eine der ersten Gewinner der industriellen Revolution auf europäischem Festland. Im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Wallonie dank einer florierenden Kohle- und Stahlindustrie zu einer der reichsten Regionen der Erde. In der Nachkriegszeit kann sich die Wallonie von den Wirtschaftskrisen sowohl in der Kohle- als auch der Stahlindustrie nicht erholen und holt auch den Vorsprung, den zum Beispiel Flandern durch ausländische Investitionen erlangt, nie auf.[3]
Die heutige wirtschaftliche Dominanz Flanderns wird klar, wenn wir zwei zentrale ökonomische Schlüsselwerte zur Hand nehmen: das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die Arbeitslosenquote. Flandern erzeugt ganze 60% des BIP, im Vergleich zur Wallonie und Brüssel, die nur jeweils 22,8% und 17,7% zum belgischen BIP beitragen.[4] Den Anteil Brüssels muss man hier allerdings ins Verhältnis zu seiner Bevölkerung setzen. Während die Wallonie ca. 32% der belgischen Bevölkerung ausmacht, dabei aber nicht einmal zu einem Viertel des BIP beiträgt, kann Brüssel mit seinen 1,25 Millionen Einwohnern (und somit etwas mehr als 10% der Gesamtbevölkerung Belgiens) von sich behaupten, überdurchschnittlich viel zur Wirtschaftsleistung des Landes beizutragen. Auch in der Arbeitslosenquote schneidet Flandern mit nur 3,35% am besten ab.[5] Damit liegt die niederländischsprachige Region sogar zwei Prozentpunkte unter dem nationalen Durchschnitt und beinahe fünf Prozentpunkte unter der Arbeitslosenquote der Wallonie.[6]
Tabelle zu Bevölkerungs- und Wirtschaftsdaten Belgiens
| Belgien | Flandern | Wallonie | Brüssel-Hauptstadt | |
| Bevölkerung (2024; absolut) [7] | 11.763.650 | 6.821.770 | 3.692.283 (Ostbelgien : 79.479) | 1.249.597 |
| Bevölkerung (2024; relativ) | 100 % | 57,99 % | 31,39 % (Ostbelgien : 0,68%) | 10,62 % |
| Bruttoinlands-produkt in € (2022)[8] | 465 Milliarden | 276,6 Milliarden | 106 Milliarden | 82,3 Milliarden |
| Relatives BIP (2022) | 100 % | 59,4 % | 22,8 % | 17,7 % |
| Arbeitslosenquote der 15- bis 64-jährigen (2023)[9] | 5,6% | 3,35% | 8,2% | 10,75% |
Die obengenannten Zahlen erklären, warum es eine deutliche innerbelgische Arbeitsmobilität gibt, die vor allem arbeitssuchende Wallonen in die wirtschaftlich attraktivere Nachbarregion Flandern umsiedeln oder pendeln läßt. Trotz eines Covid-bedingten Rückgangs[10] kann der folgende klare Trend erkannt werden: immer mehr Wallonen verlassen ihre Heimatregion zum Arbeiten. So waren 2024 15,7% der arbeitsfähigen und aktiven wallonischen Bevölkerung entweder im Ausland oder in einer anderen Region Belgiens, darunter 50.000 in Flandern, beschäftigt.[11]
Die erhöhte arbeitsbedingte Mobilität der Wallonen verlangt eine dementsprechend erhöhte Sprachkompetenz, insbesondere des Niederländischen und des Englischen. Umfragen des Eurobarometers zu den Sprachen der Europäer (2024) haben ergeben, dass bessere Arbeitsaussichten in ihrem eigenen Land die Hauptmotivation der Belgier (46%) ist, eine neue Sprache zu lernen.[12] Im europäischen Vergleich findet sich diese Begründung zur Erlernung einer neuen Sprache auf dem vierten Platz.[13] Allerdings muss man hinzufügen, dass 2012 noch 60% der Belgier angaben, wegen besserer Anstellungsmöglichkeiten eine weitere Sprach zu lernen .[14] Über die Zeit gesehen, ist somit ein deutlicher Rückgang in Hinblick auf die Bereitschaft eine neue Sprache zur Verbesserung der Anstellungsbedingungen in den letzten 12 Jahren zu konstatieren. beobachten können.
In Belgien erhöht man insbesondere auch seine Chancen auf einen neuen Job, wenn man bilingual (Französisch, Niederländisch) ist. Brüsseler Arbeitgeber, die Sprachkenntnisse voraussetzen (50%) verlangten 2012 zu 80% sowohl Französisch- als auch Niederländischkenntnisse.[15] Es wird davon ausgegangen, dass Arbeitssuchende in Brüssel ihre Einstellungschancen um 31% erhöhen, wenn sie nicht nur Französisch, sondern auch Niederländisch beherrschen.[16] In der Wallonie fällt dieser Anspruch allerdings geringer aus. Laut einer Studie des belgischen Jobportals „Le Forem“ wird nur etwa in 11,8% aller Stellenanzeigen in der Wallonie nach Niederländischkenntnissen gesucht.[17] Es kann sich für arbeitssuchende Wallonen also als durchaus vorteilhaft erweisen, die Sprache ihrer regionalen Nachbarn zu beherrschen. Javeau stellt allerdings infrage, inwiefern diese Anforderungen auch tatsächlichen Notwendigkeiten entsprechen.[18]
Quellenverzeichnis
Capron, Henri, „L’économie wallonne : une nouvelle dynamique de développement“, in: Marc Germain und René Robaye (Hrsg.), L’état de la Wallonie. Portrait d’un pays et de ses habitants, Namur, 2012, S. 330-345.
CARUSO, Frédéric, „PIB en volume“, in: IWEPS, URL: https://www.iweps.be/indicateur-statistique/pib-en-volume/, (18.11.2024).
Javeau, Claude, „L’énigme de la frontière linguistique en Belgique.“, in: Revue des Sciences Sociales. 48/1, 2012, S. 48-53.
LORENT, Pascal, „Un peu plus de 100.000 Wallons et Bruxellois travaillent en Flandre“, in: Le Soir (17.04.2023), URL: https://www.lesoir.be/507646/article/2023-04-17/un-peu-plus-de-100000-wallons-et-bruxellois-travaillent-en-flandre-infographie, (10.12.2024).
O.A., „Chiffres clés 2024 : Un aperçu de la Belgique au gré des chiffres“, in: STATBEL, URL: https://statbel.fgov.be/fr/nouvelles/chiffres-cles-2024, (10.12.2024).
O.A., „Eurobaromètre spécial « Les Européens et leurs langues » [Terrain : Septembre - Octobre 2023]“, in: Europäische Kommission (2024), URL: https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/2979, (25.11.2024).
O.A., „Europeans and their languages - report : Special Eurobarometer 386 [Fieldwork : February - March 2012]“, in: Europäische Kommission (2012), URL: https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/2979, (25.11.2024).
O.A., „ FAUT-IL ETRE BILINGUE POUR TRAVAILLER EN WALLONIE ?. Analyse de l’emploi des langues dans l’offre et la demande d’emploi en Wallonie en 2016“, in: Le Forem (2017), URL: https://www.leforem.be/content/dam/leforem/fr/documents/chiffres-et-analyses/201701_Focus_Faut_il_etre_bilingue_pour_travailler.pdf, (10.12.2024).
O.A., „Les exigences linguistiques sur le marché du travail et les connaissances linguistiques des demandeurs d’emploi en région de Bruxelles-Capitale. Focus-juin 2020“, in: Actiris (2020), URL: https://www.actiris.brussels/media/rc1bfudk/2020-09-view-brussels-les-exigences-linguistiques-sur-le-march%C3%A9-du-travail compressed-h-A64F843B.pdf, (10.12.2024).
VANDER STRICHT, Valérie, „Relation entre population active occupée et emploi intérieur“, in: IWEPS, URL: https://www.iweps.be/indicateur-statistique/relation-entre-population-active-occupee-emploi-interieur/, (10.12.2024).
[1] Übersetzt aus: Javeau, Claude, „L’énigme de la frontière linguistique en Belgique.“, in: Revue des Sciences Sociales. 48/1, 2012, S. 51.
[2] Vgl. ebd. S. 49.
[3] Capron, Henri, „L’économie wallonne : une nouvelle dynamique de développement“, in: Marc Germain und René Robaye (Hrsg.), L’état de la Wallonie. Portrait d’un pays et de ses habitants, Namur, 2012, S. 330.
[4] Daten von 2022 (vgl. CARUSO, Frédéric, „PIB en volume“, in: IWEPS, URL: https://www.iweps.be/indicateur-statistique/pib-en-volume/, (18.11.2024)).
[5] Daten von 2023 (vgl. O.A., „Chiffres clés 2024 : Un aperçu de la Belgique au gré des chiffres“, in: STATBEL, URL: https://statbel.fgov.be/fr/nouvelles/chiffres-cles-2024, (10.12.2024), S. 22).
[6] Daten von 2023 (vgl. ebd.).
[7] Vgl. ebd., S. 9.
[8] Vgl. CARUSO, PIB en volume.
[9] Vgl. Statbel, Chiffres clés 2024, S. 22.
[10] Zwischen 2021 und 2022 gab es einen Rückgang von 15,3% aller Wallonen, die in Flandern arbeiteten (vgl. LORENT, Pascal, „Un peu plus de 100.000 Wallons et Bruxellois travaillent en Flandre“, in: Le Soir (17.04.2023), URL: https://www.lesoir.be/507646/article/2023-04-17/un-peu-plus-de-100000-wallons-et-bruxellois-travaillent-en-flandre-infographie, (10.12.2024), S. 2).
[11] Vgl. VANDER STRICHT, Valérie, „Relation entre population active occupée et emploi intérieur“, in: IWEPS, URL: https://www.iweps.be/indicateur-statistique/relation-entre-population-active-occupee-emploi-interieur/, (10.12.2024).
[12] Vgl. O.A., „Eurobaromètre spécial « Les Européens et leurs langues » [Terrain : Septembre - Octobre 2023]“, in: Europäische Kommission (2024), URL: https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/2979, (25.11.2024), S. 64).
[13] Vgl. ebd., S. 63.
[14] Vgl. O.A., „Europeans and their languages - report : Special Eurobarometer 386 [Fieldwork : February - March 2012]“, in: Europäische Kommission (2012), URL: https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/2979, (25.11.2024), S. 64).
[15] Vgl. O.A., „Les exigences linguistiques sur le marché du travail et les connaissances linguistiques des demandeurs d’emploi en région de Bruxelles-Capitale. Focus-juin 2020“, in: Actiris (2020), URL: https://www.actiris.brussels/media/rc1bfudk/2020-09-view-brussels-les-exigences-linguistiques-sur-le-march%C3%A9-du-travail compressed-h-A64F843B.pdf, (10.12.2024), S. 6).
[16] Vgl. Ebd., S. 29).
[17] Daten von 2016 (vgl. O.A., „ FAUT-IL ETRE BILINGUE POUR TRAVAILLER EN WALLONIE ?. Analyse de l’emploi des langues dans l’offre et la demande d’emploi en Wallonie en 2016“, in: Le Forem (2017), URL: https://www.leforem.be/content/dam/leforem/fr/documents/chiffres-et-analyses/201701_Focus_Faut_il_etre_bilingue_pour_travailler.pdf, (10.12.2024)).
[18] Vgl. Javeau, 2012, S. 51.

