André Delvaux als Vertreter eines gesamtbelgischen Autorenkinos vor dem Hintergrund europäischer Film- und Kunsttraditionen der 1960 bis 1980er Jahre
— Von Prof. Dr. Florian Mundhenke, University of Alberta, Edmonton —
Redaktioneller Hinweis zur gendergerechten Sprache: Der Autor Florian Mundhenke weist ausdrücklich darauf hin, dass bei Gruppenbezeichnungen im vorliegenden Text stets alle Geschlechter gemeint sind.
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Inhaltsverzeichnis
- Das Werk
- Forschungsstand
- Filmhistorische Einordnung
- Themen und Motive
- André Delvaux als Vertreter des belgischen Autorenkinos
Abstract
Die insgesamt acht Langfilme des belgischen Regisseurs André Delvaux (1926-2002) werden häufig vor dem Hintergrund des Magischen Realismus oder gar des Surrealismus gelesen. Das vorliegende Essay versucht eine Neuperspektivierung der Oeuvres als Ausdruck eines belgischen Autorenkinos, welches sowohl Rückbezug auf Strömungen europäischer Film- und Kunsttraditionen nimmt, aber insbesondere als Etablierung einer Handschrift im Rahmen der Autorenfilmbewegung der Zeit gelten kann, wie auch Erfolge auf internationalen Filmfestivals belegen. Der Text versucht dabei eine Einordnung in filmhistorische und künstlerische Signifikationsformen der Zeit, er thematisiert Themen und Motive des Regisseurs und führt aus, wie André Delvaux als zeitspezifischer Filmautor verstanden werden kann.
Dieses Essay über den belgischen Filmemacher André Delvaux soll sowohl als Einladung fungieren, das Oeuvre dieses Künstlers wiederzuentdecken, als auch als Perspektivierung, wie das Schaffen von Delvaux vor dem Hintergrund der Autorenfilmbewegung und anderer kunst- und kulturhistorischer Entwicklungen zu verstehen ist. Eine solche Einordnung fehlt, da die Hauptwerke, die sein Oeuvre umfassend fokussieren, noch keinen historischen Abstand zu den Filmen hatten, teils sogar vor dem Abschluss des Gesamtwerks erschienen sind.[1]Das Essay bietet einen Überblick über den Forschungsstand, es stellt die einzelnen Filmwerke vor. Es leistet danach eine grobe Einordnung in die Bewegung des europäischen Autorenfilms und differenziert die Werke in die künstlerische Landschaft der Zeit. Im Folgenden wird auf Themen und Motive der Filme eingegangen, bevor am Schluss dann der Zirkel zur Einbettung des Gesamtwerks in den historischen Horizont geschlossen wird.
1. Das Werk
André Delvaux wurde 1926 in Heverlee geboren.[2] Er studierte in Gent Deutsche Philologie, Jura und Musik. Letzterer blieb er noch einige Jahre treu, indem er als Pianist auftrat und auch eigene Werke für das Instrument schrieb. Parallel absolvierte er in den 1950er Jahren ein Volontariat beim belgischen Fernsehen und realisierte eine Reihe kürzerer Dokumentarfilme, die heute nicht mehr erhalten sind. Ab 1965 drehte er regelmäßig fiktionale Langfilme,sowie einen Dokumentarfilm. Ab 1992 hatte er sich aus der Öffentlichkeit weitestgehend zurückgezogen und trat auch als Filmemacher nicht mehr in Erscheinung. Er starb 2002 während einer Konferenz in Valencia/Spanien, zu der als Ehrengast und Sprecher eingeladen war.
Es zeigt sich an der Ausbildung Delvauxs bereits, dass er sowohl ein Interesse an Literatur wie auch an Musik hatte – zwei Komponenten, die auch in seinen Filmen immer wieder eine herausragende Rolle spielen. Sein erster Film De Man die zijn haar kort liet knippen (1965) war eher ein Zufallsauftrag. Ein Regisseur war abgesprungen und der eigentlich nur für Dokumentarfilme zuständige Delvaux rückte aus der zweiten Reihe auf, um diesen Fernsehfilm fertigzustellen. Der Film war zunächst nur für eine einmalige Ausstrahlung im belgischen Fernsehen vorgesehen.[3] Er basiert auf dem gleichnamigen Roman (1947) des langjährigen Leiters der Genter Stadtbibliothek, Johan Daisne (eigentlich Herman Thiery, 1912-1978), der dem Magischen Realismus zugerechnet wird.[4] Der Film wurde im Anschluss in Großbritannien und Frankreich auch im Kino gezeigt und erlebte dann ab 1966 noch einmal eine Kinoauswertung in Belgien. Der Film erzählt die Geschichte von Govert Miereveld (Senne Rouffaer), einem Schuldirektor in der Provinz, der in seine Schülerin Fran Veerman (Beata Tyszkiewicz) verliebt ist, seine Gefühle aber verheimlicht. Nachdem Fran graduiert, verlässt auch Miereveld die Schule und arbeitet als Gerichtsdiener. Jahre später trifft er die Frau zufällig in einem Hotel und muss feststellen, dass sich seine idealen Vorstellungen überholt haben. Der Film ist im Gegensatz zum Roman klarer strukturiert und psychologisch ausgefeilter. Dennoch geht es dem Film nicht darum, eine kausallogische Geschichte zu erzählen, sondern es wird eine Art von unabänderlicher Grundsituation etabliert, mit der der Protagonist in verschiedenen Lebensphasen zu leben hat. Es gibt weder Versuche, die Liebe in der Realität auszuleben, noch diese Liebe zu verhindern oder zu bewältigen. Die Idee einer Art von Modell oder Grundsituation wird auch für die anderen Filme Delvauxs prägend sein.
Sein nächster Film, Un Train, un Soir (1968) basiert ebenfalls auf einem Roman von Johan Daisne (De trein der traagheid, 1950), ist allerdings nicht in niederländischer Sprache, sondern auf Französisch realisiert. Hier konnte er aufgrund des Erfolgs des Erstlingsfilms auch auf bekannte Schauspieler zurückgreifen. Yves Montand spielt den flämischen Linguistikprofessor Mathias, der mit der wallonischen Dramaturgin Anne (Anouk Aimée) verheiratet ist. Während der flämischen Proteste in Gent zu der Zeit, kommt es zu einem Streit bei dem Ehepaar. Danach fährt Mathias zu einer Tagung in den Süden, nach Frankreich. Er trifft Anne im Zug wieder, kann aber keinen Kontakt aufbauen, weil er den Zug während eines längeren unangekündigten Halts verlässt und es zum Wiedereinsteigen zu spät ist. Mit zwei weiteren Männern sucht er die nächste Stadt auf. Auch in diesem Film etabliert Delvaux wieder eine aus dem Alltag allgemeinhin bekannte Standardsituation: Es geht um den Streit über verschiedene moralische Haltungen,die auch den politischen Konflikt der beiden Bevölkerungsgruppen in Belgien reflektiert; eine Handlung im klassischen Sinne wird dabei nicht erzählt. Im Gegenteil erscheinen in diesem Film die einzelnen Szenen eher wie Wahrnehmungsfragmente, die bisweilen logisch und nachvollziehbar wirken, aber oft auch zusammenhanglos oder zumindest traumähnlich sind. Während der Film in Frankreich gut aufgenommen wurde – vermutlich auch wegen der beiden bekannten Stars – war er kommerziell nicht sehr erfolgreich.[5] Nach seiner Zeit als Fernsehregisseur und nun in Zusammenarbeit mit 20th Century Fox hat Delvaux die folgenden seiner Filme als Koproduktionen mehrerer kleiner (oft paneuropäischer) Firmen realisiert.
Auch Rendez-Vous à Bray (1971) basiert auf einer literarischen Vorlage, der Novelle Le Roi Cophétua von Julien Gracq (1970). André Delvaux konnte mit dem Autor zusammenarbeiten und beide erweiterten die Geschichte des luxemburgischen Pianisten Julien Eschenbach (Mathieu Carrière), der auf das Landgut eines Freundes Jacques Neuil (Roger van Hool) fährt, diesen dort aber nicht antrifft. Während des Wartens erinnert er sich an die gemeinsame Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die in Rückblenden entwickelt wird, und bespricht sich mit einer Bediensteten (Anna Karina), die ihm Essen serviert. In diesem Film ist die Standardsituation das (unerfüllte) Warten auf den gemeinsamen Freund, dessen Rückkehr ungewiss ist. Während Neuil als Franzose im Krieg dienen muss, ist Eschenbach aufgrund seiner Herkunft davon ausgenommen. Der Film konzentriert sich dabei auf das Thema von Erinnerung und Reminiszenz an die vergangene Zeit, wobei aber eine Bewertung oder Kausalität der Ereignisse fehlt. Der Film lief auf dem 21. Filmfestival in Berlin und gewann dort eine lobende Erwähnung der internationalen Kritikerjury FIPRESCI.
Nach dem Rückbezug auf literarische Vorlagen hatte Delvaux Mitte der 1970er Jahre seinen Stil und seine Themen etabliert. Der letzte Film in dieser Reihe, Belle (1973), variiert entsprechend eher Bekanntes, als Neues zu liefern. Das Werk erzählt von dem Archivar und Dichter Mathieu Grégoire (Jean-Luc Bideau), der zwar in seiner Tätigkeit als Schriftsteller bei Vorträgen Anerkennung erhält, aber nie den großen Durchbruch erlebt hat. Sein Eheverhältnis ist ebenso von fehlendem Austausch gekennzeichnet, wie auch die Kommunikation zu seiner Tochter Marie (Stéphane Excoffier) dysfunktional ist. Eines Tages überfährt Grégoire ein Tier auf der Landstraße. Da es dunkel ist, kann er nicht erkennen, um was es sich gehandelt hat. Am nächsten Tag fährt er zurück und entdeckt einen verletzten Hund, den er vermutlich angefahren hat. Wie sich herausstellt, gehört dieser einer offenbar stummen Frau, die in einem verfallenen Bauernhaus lebt. Er lässt sich allmählich auf eine Affäre mit der Namenlosen ein, bis eines Tages ein Freund der Eremitin auftaucht. In dem Werk vermischt Delvaux verschiedene Stilelemente der anderen Filme. Dazu gehört etwa die absurde, unerfüllbare Liebe (amour fou) aus dem ersten Spielfilm, oder der Protagonist, der Sprachwissenschaftler ist, und einen Menschen trifft, mit dem Kommunikation nicht möglich ist. Der Film Belle wurde 1973 auf dem Filmfestival von Cannes gezeigt, gewann allerdings keine Preise. Für die produzierenden Studios war der Film kein großer Erfolg, so dass Delvaux für einige Jahre keinen weiteren Film realisieren konnte. [6]
Die folgenden Filme sind zunächst Auftragswerke. Der wiederum in niederländischer Sprache realisierte Een vrouw tussen hond en wolf (1979) basiert auf einem gleichnamigen Roman (1977) von Ivo Michiels und erzählt die Geschichte von Lieve (Marie-Christine Barrault), einer Frau, die zwischen einem im Krieg verschollenen Nationalisten (Rutger Hauer) und einem Widerstandskämpfer (Roger van Hool) steht. Der Film lief zwar 1979 in Cannes und wurde auch für den fremdsprachigen Oscar eingereicht, dort jedoch nicht weiter berücksichtigt. Die Geschichte ist für Delvaux eher ungewöhnlich und von einer narrativen Kausallogik geprägt, für ihn typische Elemente (etwa Traumanalogien) finden sich weniger. Dies gilt auch für den Dokumentarfilm To Woody Allen from Europe with Love (1980) über den US-amerikanischen Regisseur und Komiker, der für das belgische Fernsehen produziert wurde. Gleichwohl ermöglichten diese beiden Filme Delvaux, in den 1980er Jahren noch zwei weitere Filme zu produzieren.
Im Jahr 1983 entstand Benvenuta – basierend auf der Erzählung La Confession anonyme von Suzanne Lilar (1960). Der Film reflektiert auf einer Meta-Ebene die Begegnung des Drehbuchautors François (Mathieu Carrière) mit der Autorin des titelgebenden Romans Jeanne (Françoise Fabian), während zeitgleich die Handlung des Buches über die Liebe der belgischen Pianistin (Fanny Ardant) zu einem italienischen Diplomaten (Vittorio Gassmann) filmisch entwickelt wird. Delvaux etabliert hier wieder eine Standardsituation, nämlich die Reflexion einer unmöglichen Liebe, die auf beiden Ebenen (Roman, umgebende Realität) bedachtsam ausbuchstabiert wird. Dabei interessiert sich Delvaux sowohl für die zwischenmenschlichen Beziehungen als auch für den Adaptationsprozess von Buch zu Film, der über das Gespräch zwischen den beiden Autoren entfaltet wird.
Der letzte Film ist der 1988 nach dem Roman von Marguerite Yourcenar (1968) entstandene L'Œuvre au noir. Im 11. Jahrhundert kehrt der Arzt und Alchemist Zenon Ligre (Gian-Maria Volonté) mit gefälschten Unterlagen in sein Herkunftsland Flandern zurück. In seiner Heimatstadt Brügge findet er Arbeit als Arzt im Kloster des Prieur des Cordeliers (Sami Frey). Nachdem er eine Klinik und ein Heilbad gegründet hat, macht er sich auf den Weg, als Arzt und Alchemist für die Armen zu arbeiten. Zeno, der seit mehreren Jahren bisexuelle Beziehungen unterhält, wird schließlich aber beschuldigt, homosexuelle Beziehungen zu einem jungen Mönch zu haben, und wird vor ein Gericht gestellt. Für diesen Film arbeitete Delvaux eng mit der Autorin der Vorlage zusammen. Beide waren an einer Adaption interessiert, sich aber auch bewusst, dass eine filmische Umsetzung Schwierigkeiten mit sich bringt, da die vielen historischen Kontexte des Buches im Film nur unzureichend entfaltet werden können. Wie auch der andere historische Film von Delvaux von 1979, ist auch dieser konkreter und stärker plotbasiert, vermag aber durch den Fokus auf den Konflikt von Kirche und wissenschaftlich fundierter Heilkunde über die individuelle Geschichte des Zenon Ligre hinauszugehen. Der Film hat den André-Cavens-Preis für den besten Film der Vereinigung belgischer Filmkritiker (UCC)gewonnen.[7] Ab 1990 ließ sich für Delvaux kein weiteres Projekt mehr realisieren.
2. Forschungsstand
Während zu anderen europäischen Filmemachern dieser Zeit zahlreiche Publikationen erschienen sind, ist die Veröffentlichungslage zu Delvaux bis heute recht übersichtlich. Herausragend sind einige Buchpublikationen der 1980er bis 2000er Jahre. Bereits 1985 erschien der von Adolphe Nysenholc herausgegebene Sammelband André Delvaux ou les visages de l’imaginaire, der neben Angaben zum Werk und Leben des Filmemachers auch Kritiken aller seiner bis dahin entstandene Filme, sowie Aufsätze zu einzelnen Themenschwerpunkten zusammenträgt.[8] Diese Veröffentlichung ist bis heute die umfangreichste zum Werk des Regisseurs. Nysenholc hat 2006 mit André Delvaux ou le réalisme magique noch einmal eine weitere, in diesem Fall monografische Annäherung an den Regisseur unternommen, die alle einzelnen Filme vor dem Hintergrund des Magischen Realismus reflektiert.[9] Das dritte Buch ist das von den französischen Filmpublizisten Henri Agel und Joseph Marty verfasste André Delvaux: de l'inquiétante étrangeté à l'itinéraire initiatique (2003), welches eine filmgeschichtliche Einordnung und Interpretation aller Werke vornimmt.[10] Verstärkt sind vor allem seit 2010 noch Zeitschriftenpublikationen in englisch- und französischsprachigen Wissenschaftsorganen wie The French Review, Yale French Studies und Revue des lettres belges de langue française veröffentlich worden.[11] Darin geht es insbesondere – ähnlich wie in dem letzten Buch von Nysenholc – um eine Einordnung der Filme in den Werkkontext entweder des Magischen Realismus oder des Surrealismus. In der internationalen Filmwissenschaft hat André Delvaux keine große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Im Gegensatz zu ikonischen französischen (Godard, Truffaut, Chabrol) oder italienischen Filmregisseuren (Fellini, Antonioni, Pasolini) der gleichen Zeit, gibt es kaum signifikante englischsprachige Veröffentlichungen über sein Werk. Ähnlich sieht es auch im deutschsprachigen Raum aus. Außer dem von Pierre Lachat für die Züricher Arbeitsgemeinschaft Cinéma verfassten, knapp 80-seitigen Band André Delvaux – Belgischer Film von 1974, sind keine Aufsätze auffindbar.[12]Im Kontext von künstlerischen Aufsätzen zu René Magritte und anderen findet Delvaux gelegentlich Erwähnung.[13] Im folgenden Abschnitt wird eine Neubewertung des Oeuvres angeregt und auf die Bedeutung des Regisseurs im Kontext der Entwicklung des europäischen Autorenkinos fokussiert.
3. Filmhistorische Einordnung
Auch wenn Belgien auf den ersten Blick keine zentrale Stellung im Rahmen des europäischen Kinos einnimmt, so ist das Werk von André Delvaux bedeutend für eine paneuropäische Perspektive der Entwicklung des Films über die einzelnen nationalen Entwicklungen hinaus. Grundsätzlich sind mit Blick auf die europäische Filmgeschichte vor allem die beiden Länder Frankreich und Italien erwähnenswert, da hier die Etablierung einer eigenen Filmsprache und eines tragfähigen Produktionshintergrundes deutlich sichtbar wird und sich über viele Jahre hin zu einem Horizont entwickelt, der eine breite Ausdifferenzierung unterschiedlicher Filmstile erlaubt. In Italien konnte sich etwa ab 1943 der Neorealismus entwickeln, der unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs die Schicksale der Menschen auf der Straße fokussierte; Regisseure wie Vittorio de Sica, Luchino Visconti und Roberto Rossellini wurden bekannt und legten den Grundstein für ein europäisches Autorenkino der Nachkriegszeit.[14] Dieser Gedanke wurde Ende der 1950er Jahre dann vor allem in Frankreich populär, als neue junge Filmemacher (die meistens als Filmkritiker gearbeitet hatten) künstlerische Werke in vollständiger Eigenverantwortung realisieren konnten. Vor allem die Namen von Jean-Luc Godard und François Truffaut sind mit der Nouvelle Vague verbunden, einer filmgeschichtlichen Erneuerungsbewegung, die sich im Anschluss an Alexandre Astrucs Aussage von der Kamera als Stift (Le Caméra Stylo) der Aufwertung des Filmemachers als alleinigem Urheber des Werks verschrieben hat.[15] Dieser Gedanke verbreitete sich dann ab 1960 wie ein Lauffeuer in unterschiedlichen nationalen Kinematografien Europas und brachte unter anderem das Neue Deutsche Kino seit dem Oberhausener Manifest (1962) mit der Absage an „Opas Kino“ und das innovative British New Cinema (ab 1960) hervor.[16] Im Anschluss an diese Bewegungen konnten sich vor allem in Italien (u.a. Michelangelo Antonioni, Federico Fellini) und in Frankreich (u.a. Alain Resnais, Agnès Varda) auch andere Regisseure mit eigener Ausdrucksweise etablieren und dem Gedanken von einer Handschrift eines filmischen Urhebers damit eine grundsätzliche Geltung verschaffen. Zugleich kam es seit den 1960er Jahren in diesen (und anderen europäischen Ländern) auch zu einem Aufschwung der Filmproduktion an sich. Auch das kommerziell erfolgreiche Kino profitierte von dem Wert der nationalen ‚Säulenhelden‘, in Italien etwa durch Aufschwung des Giallo und des Horrorfilms (z.B. Dario Argento) und in Frankreich durch Erfolge des Abenteuer- und Kriminalfilms (etwa durch Edouard Molinaro und Claude Chabrol).
Es lässt sich aus heutiger Sicht sagen, dass sowohl der Fokus auf die nationale Identität und ihre (durchaus auch kritische) Reflexion und die Mobilität auch von Filmemachern im europäischen Kontext auf kleinere Länder abfärbte. Man kann das etwa an den Niederlanden sehen, wo sowohl Filmemacher (Paul Verhoeven) wie Stars (Rutger Hauer) ab 1970 auch international erfolgreich sind und sogar in Hollywood reüssieren. Das gleiche gilt auch für Ungarn (Miklós Jancsó), Schweden (Ingmar Bergman) oder die Schweiz (Alain Tanner). Im Kontext dessen nimmt Belgien eine besondere Stellung ein, weil es als Land mehrsprachig ist und der Konflikt zwischen französisch- und niederländischsprachigen Medien nicht nur Zeitungen, Fernsehen und populäre Musik, sondern eben auch den Film betrifft. Darüber hinaus ist das Land klein und verfügt nach dem Zweiten Weltkrieg weder über ausreichend Ausbildungsorte noch über relevante Organe (wie Zeitschriften) oder Institutionen, die eine Entwicklung begünstigen könnten. Insofern lässt sich Delvaux als bedeutender Vertreter des Autorenfilms und damit auch als Wegbereiter eines modernen belgischen Kinos ansehen. Relevant ist er als Filmautor zunächst, indem er sich für alle seine Werke immer alleinverantwortlich zeichnete. Wenn diese auf Vorlagen basierten, hat er dennoch die Drehbücher (mit-)verfasst, oft in Zusammenarbeit mit den Urhebern. Im Gegensatz zu anderen belgischen Regisseuren der Zeit – wie Roland Verhavert oder Harry Kümel –, die einzelne weltweite Erfolge hatten, war er fast 25 Jahre auf internationalen Filmfestivals präsent und erhöhte etwa auf der Berlinale oder in Cannes die Sichtbarkeit des belgischen Films in einem großen Zeitraum. Seit dieser Hochphase in seinem Filmschaffen (vor allem von 1965 bis 1973), hat sich die Situation grundlegend verändert. Dies geschieht bereits Ende der 1970er Jahre mit dem internationalen Erfolg von Chantal Akerman und Marion Hänsel. Vor allem ab 2000 gibt es Künstler wie etwa Benoît Poelvoorde oder Lucas Belvaux, die auch international sichtbar sind. Später kommen die sozialkritischen Filme der Brüder Dardenne oder das fantastische Kino von Jaco van Dormael hinzu.[17]
Das Besondere dabei ist nun wiederum, dass die Filme von André Delvaux sich nicht durch ein Kopieren von Strategien italienischer, französischer oder niederländischer Stilformen der Filmgestaltung (oder deren Themen und Ästhetiken) auszeichnen, sondern dass er genuin neue Akzente gesetzt hat, um sich in der Landschaft des europäischen Autorenfilms zu etablieren. Dazu gehört auch eine konstante, durchaus kritische Beschäftigung mit dem Konflikt der wallonischen und flämischen Bevölkerungsgruppen im Land, der in der Beziehung der beiden Protagonisten in Un Train, un Soir offen angesprochen wird, in anderen Filmen vermittelter verhandelt wird. Des Weiteren werden künstlerische Stile und Signifikationsformen reflektiert, die nicht unbedingt auf den Film bezogen sind, sondern eher eine transkulturelle, interdisziplinäre Perspektive eröffnen. Dazu gehört der Bezug auf belgische Literatur (Daisne, Yourcenar) und die Verbindung zu belgischer Malerei, die entweder implizit Einfluss erhält (wie etwa mit Rückbezug auf den namensgleichen, aber nicht verwandten Maler Paul Delvaux) oder auch direkt in Gesprächen der Figuren thematisiert wird; und nicht zuletzt auch die Bedeutung von moderner klassischer Musik (insbesondere für das Klavier), die in vielen Filmen Delvauxs eine Rolle spielt. Man kann also sagen, dass es kein Nationalstolz ist, den der Filmemacher in seinen Werken etabliert, sondern eher eine vorsichtige Sensibilität für Strömungen unterschiedlicher Künste, etwa des Surrealismus, aber auch zeitgenössisch relevanter Vertreter anderer Künste – dies auch im internationalen Kontext. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Beschäftigung des Komponisten Frédéric Devreese, der Musik für fünf seiner Filme komponierte und der in den 1980er Jahren als einer der bedeutendsten Komponisten und Dirigenten des Landes galt. Diesen Motiven, Konstanten, aber auch Themen in den Werken André Delvauxs soll im nächsten Kapitel noch gründlicher nachgegangen werden.
4. Themen und Motive
Im Folgenden werden in insgesamt fünf Stationen die Themen und Motive von André Delvaux entwickelt, wobei immer auch auf die kulturhistorische Einbettung dieser Aspekte Rücksicht genommen wird. Die einzelnen Stationen beschäftigen sich mit der Wiederholung, der Ausgangssituation/dem Modell, dem Thema Traum und Assoziation, dem Bereich Kommunikation und Kommunikationsverlust sowie der künstlerischen Transformation des Alltags.
Es wurde bereits erwähnt, dass die Filme des Regisseurs häufig nicht narrativ gestaltet sind, sondern eher aus einer Position heraus Möglichkeiten erkunden. Durch diese Perspektive kann die Struktur aus anderen Elementen, als aus den narrativen Standardkonflikten entwickelt werden. Eine häufig in den Filmen von Delvaux anzutreffende Technik ist die Strukturierung über ritualisierte Handlungen und sich wiederholende Alltagsprozesse. Dazu gehört neben der Aufführung von Musik (siehe weiter), vor allem auch die Einbeziehung der Zubereitung, des Servierens und Verzehrens von Nahrung, die insbesondere in den frühen Filmen bis 1973 eine Rolle spielen. So findet etwa die Kommunikation von Julien und der namenlosen Haushälterin in Rendez-Vous à Bray fast ausschließlich über das alltägliche Präparieren und Servieren von Essen statt. Auch die Kommunikation der beiden sich völlig unbekannten Menschen, vollzieht sich über diese Rituale. Eine weitere Wiederholung zeigt sich generell im Fokus auf die Lebens- und Arbeitsprozesse von Menschen im ländlichen Belgien. Das spielt schon in De Man die zijn haar kort liet knippen eine Rolle, vor allem im zweiten Teil, in dem der Protagonist Gerichtsdiener geworden ist und bei Obduktionen und anderen offiziellen Handlungen anwesend sein muss, ohne selbst aktiv zu werden. Diese werden in aller Detailtreue gezeigt, ohne aber eine Relevanz für die Hauptfigur im eigentlichen Sinne zu haben. Ähnlich werden auch in Belle Routinen wie die Fahrten des Protagonisten zwischen den einzelnen Lebens- und Arbeitsorten genauestens ausgemalt; auch das Frühstücken in der Küche wird so immer wieder gezeigt.
Abbildung 1: Screenshot aus Belle, © Cinematek.Be
Auch das Einkaufen und Bezahlen im lokalen Markt wird wiederholt gezeigt, vor allem in Bezug auf das Einmischen von Menschen in die eigenen Lebensprozesse. So ist Mathieu sehr erregt darüber, dass der Bekannte von Belle sein Auto ungefragt ausleiht und damit einkaufen fährt, weil er Angst hat, im Dorf mit dem exzentrischen Mann konnotiert zu werden. Zuletzt soll auch die Rolle von Reisen und Zügen als Teil einer ritualisierten Wiederholung angesprochen werden. Schon in Un Train, un Soir ist klar, dass die Reise der Hauptfigur Mathias weniger Mittel zum Zweck ist (um die Handlung von Punkt A zu Punkt B zu verlagern), sondern ein Impuls für die Selbstreflexion der Hauptfigur und damit wesentlich im Mittelpunkt des Films steht. Die Zugfahrt von Gent nach Frankreich bedeutet für Mathias eine Wiederbegegnung mit seiner Frau, dann eine Richtungsänderung seiner Absichten durch das Aussteigen, wonach der Zug ohne ihn weiterfährt. Sie bedeutet aber auch eine Ursache für die Konfrontation mit dem Fremden in der Stadt und am Ende mit dem Tod, in dem angedeutet wird, dass der Zug (ohne ihn) im Nachhinein verunglückt ist. Auch in Rendez-Vous à Bray wird das Warten auf den Zug, der den Freund Neuil zurückbringen soll, wichtige Motivation für Julien, noch Zeit auf dem Landgut zu verbringen. Am Ende des Films entscheidet er sich gegen eine Weiterfahrt und fährt zum Landhaus zurück. In allen anderen Filmen (bis auf L’Oeuvre Noir, in dem es historisch keinen Sinn ergibt) kommen Züge, Bahnhöfe oder Passagiere vor. Der Zug bedeutet für Delvaux nicht nur ein Verkehrsmittel, sondern er ist Ort der Veränderung, der Reflexion, der Transition; manchmal des Flüchtens, manchmal des Ankommens. Es gibt immer ein gewisses Unbehagen bei der Inszenierung von Abfahrten, Reisen und Ankommen. Das Moment des Unabgeschlossenen, Unfertigen ist diesen Szenen inne und sie leiten oft zu traumgleichen Abschweifungen über, die im Folgenden noch thematisiert werden sollen (Clip 1: Eine Traumszene mit Mathieu und seiner Tochter am Bahnhof in Belle).[18] Das nächste häufig anzutreffende Motiv wurde bereits bei den Handlungsbeschreibungen weiter oben thematisiert: Es handelt sich um die Grund- oder Standardsituation, die häufig anstelle eines narrativen Konflikts aufgebaut wird. Bis auf die beiden historischen Filme Een vrouw tussen hond en wolf und L’Oeuvre Noir haben alle Filme von Delvaux eine kurze erzählerische Einleitung, die dann zu einer Situation führt, die quasi den ganzen restlichen Film bestimmt. In De Man die zijn haar kort liet knippen ist es die unausgesprochene Liebe (und Beobachtung, Distanzierung, Wiederannäherung) zu Fran aus Sicht des Schulleiters Miereveld. Er spricht auch mit anderen nie über seine Gefühle, weder mit seiner Frau, noch mit Freunden, so dass der Zuschauer ihn oft nur beim Denken, Reflektieren, ‚Bewältigen‘ beobachtet (Clip 2: Miereveld beim Beobachten von Fran während einer Schulaufführung.[19] In Un Train, un Soir ist es die titelgebende, an einem Abend stattfindende Zugfahrt, die etwa nach einer halben Stunde des Films einsetzt und die Entwicklung und Reflexion des Protagonisten zu beruflicher Tätigkeit, zu seinem Heimatland Belgien, sowie der Beziehung zu seiner Frau Anne in Gang setzt. Auch hier geht es um ein Warten, Betrachten, Zaudern. In Rendez-Vous à Bray ist es das Warten auf den Freund Neuil, das wie ein (zunächst hoffnungsloses) ‚Warten auf Godot‘ erscheint und das eine Reflexion früherer und heutiger Möglichkeiten bewirkt (Clip 3: Eine häufig in Delvauxs Filmen zu findende Warteszene relativ zu Beginn des Films Rendez-Vous à Bray).[20] In Belle ist es die unerreichbare Liebe zu und das wiederholte, sprachlose Aufsuchen von Belle durch Mathieu, der aber keine Beziehung im eigentlichen Sinne zur stummen Frau aufbauen kann. In Benvenuta ist es auf beiden Ebenen des Films die allmähliche Annäherung von Autorin und Drehbuchautor, aber auch die tragische, nur in einer einzelnen Begegnung erfüllten Liebe zwischen der Belgierin und dem älteren Italiener. Einmal hat die Pianistin mit dem Flugzeug eine Zwischenlandung in seiner Heimatstadt Mailand und ruft ihn an, aber auch nur aus der sicheren Distanz, da sie weiß, dass ihr nächstes Flugzeug bereits in zehn Minuten zum Abflug aufgerufen wird. Sie zaudert und wartet, erledigt dann das Telefonat in letzter Sekunde vor dem Aufruf des Fluges. Dieses Warten und Nicht-Erfüllen von Ereignissen ist im Film nicht völlig ausgeschlossen, es ist doch aber eher selten. Man findet es etwa bei Antonioni (wie die hoffnungslose Suche der verschwundenen Geliebten in L’Avventura, 1960). Es reflektiert die aktuelle Situation von allen Seiten und trägt Möglichkeiten in sich, auch verpasste Chancen und die unmittelbare Zukunft auszuleuchten und daraus eine umfassende Sinnbildaufnahme der Gegenwart zu erstellen.
Ein weiteres Motiv ist direkt damit verbunden, nämlich der Traum oder die freie Assoziation von Szenen, die oft nicht kausallogisch verbunden sind. Dieses Element wird in der Literatur häufiger angesprochen, da es die Bezüge zum Magischen Realismus oder auch zum Surrealismus verkörpert. Dennoch muss gesagt werden, dass die Filme Delvauxs ästhetisch und inhaltlich durchaus anders gestaltet sind als die ebenfalls teils offenen und traumartigen (oft als surrealistisch bezeichneten) Filme von Luis Buñuel, die etwa zeitgleich entstanden sind (etwa La Charme discrete de la Bourgeousie, 1972). Bei Delvaux gibt es – im Gegensatz zu Buñuel – keine offene Sozialkritik, sondern er ist eher an den Gedanken- und Innenwelten seiner Figuren interessiert, an individuellen Wahrnehmungen und deren Überlagerungen, die er auch ästhetisch in Träumen, Erinnerungen, Illusionen ausmalt, während bei Buñuel eher eine gesellschaftliche Metaphorik vorherrscht. Im Gegensatz zu anderen Regisseuren – hier wäre etwa auch der Nouveau-Roman-Autor Alain Robbe-Grillet zu erwähnen, der ebenfalls acht Filme in der gleichen Zeit inszeniert hat -, sind die traumähnlichen Episoden bei Delvaux deutlich konkreter, zwar immer noch interpretationsoffen, aber selten völlig unmotiviert. In Un Train, un Soir gibt es zwei Sprünge, einmal von einer Situation, in der Mathias in einem Abteil sitzt und zufällig seine Frau Anne trifft. Beim zweiten Mal in einem Moment, in dem er mit zwei Männern, die er im Zug getroffen hat, auf einmal während eines Stillstands draußen steht und nach Anfahren des Zuges diesen nicht mehr betreten kann, was zunächst irritierend erscheint. Warum sollte er den Zug verlassen, wenn dieser aufgrund einer Störung hält? Weshalb sind es gerade die beiden Männer, die den Protagonisten begleiten? Am Ende begibt sich Mathias aus der Stadt, in der er einen Abend mit den Begleitern verbracht hat, wieder zum Bahnhof und sieht, dass der Zug (offenbar vor Einfahrt in den Ort) verunglückt ist und die Waggons zerstört auf den Gleisen stehen.
Abbildung 2: Screenshot aus Un Train, un Soir. © Cinematek.Be
Hier lassen sich dann vielfältige Reflexionen anstellen: Ist es möglich, dass das Szenario des Aussteigens und des Aufsuchens der Stadt nur ein Traum oder eine Überlegung waren? Andererseits erklärt das nicht, warum Mathias das Unglück überlebt hat - und die anderen, vor allem seine Frau, offenbar nicht. Umgekehrt erscheint es auch möglich, dass nach dem konkreten ersten Teil des Films mit einer Vorlesung des Protagonisten und der Demonstration in der Stadt sowie dem Streit mit Anne die ganze Zugfahrt nur eine Art traumgleicher Reflexion des Ist-Zustandes aus Sicht der Hauptfigur war. Das Gleiche gilt auch für die Beziehung zwischen Mathieu und Belle in dem nach der Frau benannten Film. Mehrere Momente deuten darauf hin, dass das Zusammentreffen und die Liebesaffäre nur eine Fantasie des alternden und gelangweilten Mannes sind. Nicht zuletzt das Auftreten ihres Freundes auf einer Lesung, der sich als völlig anderer Mann entpuppt (er trägt nur die gleiche Pelzjacke), deutet auf diese Version der Geschichte hin. Der Traum erscheint also bei Delvaux weder als freudianischer Ausdruck von unerfüllten (oft erotischen) Wünschen oder erlebten Ängsten (wie häufig bei Robbe-Grillet) und auch nicht als Sozialkritik (wie bei Buñuel), sondern als Teil einer Reflexion des Alltagslebens und momentaner Möglichkeiten. Traum ist also keine Abweichung und Radikalisierung, sondern eher eine Verdichtung, Neubewertung und Gedankenwanderung.
Das vorletzte Motiv, die Thematisierung von Kommunikation und ihrem Verlust, ist eng damit verbunden. Häufig sind die Figuren in den Filmen von Delvaux Lehrer, Sprachwissenschaftler, Dichter, Autoren oder anders kreativ Tätige. Dennoch ist es ihnen oft unmöglich, ihre Wünsche und Absichten klar zu formulieren, oder/und mit anderen, teils langen Bekannten, in einen Dialog zu treten und zu einer Verbesserung ihrer Lage durch kommunikativen Austausch beizutragen. Der Schulleiter Miereveld ist stark von seinen Gefühlen affiziert, kann sich jedoch niemandem mitteilen, er ist nicht einmal in der Lage, seine (offenbar) dysfunktionale Beziehung zur eigenen Ehefrau aufzulösen. Er bleibt Gefangener, wird erst paradoxerweise am Ende ‚frei‘, als er wegen des vermeintlichen Mordes an Fran ins Gefängnis kommt und dort in einen vorgegebenen Ablauf ohne eigenes Handeln eingebunden wird. Mathias in Un Train, un Soir ist anerkannter Linguistikprofessor für die flämische Sprache. In seiner Vorlesung sitzen aber nur etwa zehn Studierende (auffälligerweise in den beiden letzten Reihen). Er hat Sympathie und Interesse am Konflikt zwischen flämischen und wallonischen Volksvertretern, kann sich aber zu einer Beteiligung und Stellungnahme nicht aufraffen. Eine fruchtbare Kommunikation mit seiner aus der Wallonie stammenden Frau Anne,die als Theaterdramaturgin künstlerisch aktiv ist, gelingt ihm schon länger nicht mehr. Ein Streit scheint zur völligen Entfremdung der beiden zu führen. In Rendez-Vous à Bray ist die Kommunikation schon allein deshalb nicht möglich, weil der Dialogpartner, der Freund, gar nicht vorhanden ist. Die Kommunikation mit der Haushälterin findet (fast) nur über das Essen und in Form einer erotischen Episode gegen Ende des Films statt. In Belle kann Mathieu nicht gegen seine Frau bestehen, da sie eine geradezu feindselige Haltung ihm gegenüber aufgebaut hat. Besonders eindrücklich wird darüber hinaus der Kommunikationsverlust auch hinsichtlich seiner Tochter und in Bezug auf seine schriftstellerische Tätigkeit gezeigt. Seine Tochter liegt dem Protagonisten zwar am Herzen, doch er kann sich nicht wirklich in ihre Lebenssituation hineinversetzen. Er verbietet ihr in einer Szene zwar einen kurzen Rock und eine transparente Strumpfhose zu tragen, andererseits imaginiert er sogar eine sexuelle Fantasie mit ihr.Es scheint, als habe er eher Angst vor seinen eigenen Gedanken als vor Gefahren, die der Tochter in der Außenwelt begegnen könnten. Als Schriftsteller hat er sich nicht etablieren können und arbeitet deshalb als Archivar. Während sein erster Vortrag am Anfang des Films mit viel Wohlwollen aufgenommen wird, wird er bei seinem zweiten Referat am Ende von einigen jüngeren Zuhörern im hinteren Teil des Saals ausgebuht – er war offenbar nicht nur unfähig, sich zu etablieren, sondern seine Tätigkeit entspricht auch nicht mehr dem Zeitgeist. Nur eine ältere Dame möchte danach eine Unterschrift in das erworbene Buch, die Mathieu aber auch nicht zu leisten imstande ist. Delvaux untersucht den Zusammenhang einerseits von Denken, Handeln, Fühlen und Sein für das individuelle Subjekt, andererseits von der Außenwahrnehmung der Person durch andere Menschen, Partner, Kollegen, Freunde. Die Vermittlung der eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen gelingt den meistens männlichen Figuren überwiegend nicht – sie bleiben Gefangene, verharren in ihrer eigenen Vorstellung. Am deutlichsten wird das für die Hauptfigur Miereveld in De Man die zijn haar kort liet knippen der am Ende erst seine imaginäre Freiheit von seinen Gedanken und Gefühlen im realen Gefangensein während seiner Zeit im Zuchthaus erlebt.
Das letzte Themenfeld ist weniger ein inhaltliches Merkmal, sondern eher eines, was die Arbeitsweise und Ästhetik von Delvaux betrifft. Die künstlerische Transformation des Alltags öffnet den Horizont hinsichtlich der Einbettung verschiedener kreativer Praktiken der ‚Bewältigung von Realität‘, die viele der modernen Künste eint. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass – bis auf Belle – alle seine Filme auf literarischen Vorlagen basieren oder einen Rückbezug darauf nehmen. Auch die Auswahl der Vorlagen ist signifikant, denn nicht nur Johan Daisne und Marguerite Yourcenar, sondern auch Julien Gracq und Ivo Michiels gelten als Vertreter der (post-)modernen, abstrakten und metaphorischen Literatur (die mit verschiedenen Bezügen zum Symbolismus, zum Surrealismus oder zur Romantik arbeiten).[21] Dies wird in Bezug auf Daisne noch hinsichtlich des sogenannten Magischen Realismus geöffnet, für den der Buchautor einsteht und der Delvaux sehr interessiert hat. Diese Bewegung, die sich in der Literatur in Südamerika etabliert, hat in Belgien auch in der Malerei Niederschlag gefunden.[22] Der Maler Paul Delvaux (keine Verwandtschaft) hat vor allem zu Übergangssituationen, zu Transfers und zu Alltagssituationen gearbeitet. Seine Bilder von Bahnhöfen und Zügen sind recht bekannt – ein Thema, welches auch André Delvaux beschäftigt.[23]
Abbildung 3: Paul Delvaux – Train de Soir, 1957, © KMSK/Paul Delvaux Foundation
Abbildung 4: Screenshot aus Belle, © Cinematek.Be
Es wird in der Literatur zwar recht häufig auf diese Konsonanz hingewiesen.[24] Darüber hinaus aber spielt Malerei auch in anderen Bildern eine große Rolle, etwa ein surrealistisches Porträt zweier Tiere, welches prominent im Wohnzimmer von Mathieu in Belle platziert ist, oder das Wandporträt, vor dem Mathieu seinen zweiten Vortrag hält.
Abbildung 5: Screenshot aus Belle, © Cinematek.Be
Wie bereits erwähnt, hat Delvaux darüber hinaus Musikwissenschaft studiert und war auch selbst als Pianist tätig, bevor er sich hauptberuflich dem Film zugewandt hat. Durch die Freundschaft und Beschäftigung von Frédéric Devreese als Filmkomponist hat er einen wichtigen Vertreter der modernen belgischen Musik Teil seiner Filme werden lassen. In den Handlungen spielt klassische Musik, vor allem das Klavierspiel, eine herausragende Rolle. Die Hauptfigur Julien aus Rendez-Vous à Bray ist professioneller Klavierspieler; sein Grenzgang zwischen künstlerischem Erfolg und der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, wird vor allem in den Rückblenden thematisiert.
Abbildung 6: Screenshot aus Rendez-Vous à Bray, © Cinematek.Be
Das gilt auch für die Belgierin Benvenuta, die ebenfalls professionelle Klavierspielerin ist. Delvaux selbst hat diese Tätigkeit als Broterwerb seit seinem Volontariat für das Fernsehen aufgegeben. Er thematisiert in seinen Filmen aber immer wieder die Konfliktlinie zwischen kreativem Schaffen und Innovation auf der einen Seite und der Hinwendung zum bürgerlichen Leben und der Etablierung von Sicherheiten auf der anderen Seite. Dies wird etwa durch die Freundschaft zwischen Julien und Neuil belegt,[25] wie auch durch die gegensätzlichen Bedürfnisse der jüngeren Pianistin Benvenuta und des oft leidenschaftslosen, älteren und gesetzten Diplomaten Livio. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kunst den Alltag transformiert und begleitet, auch erträglicher macht; dass sie dazu beitragen kann, die banale, oft von Routinen geprägte Existenz – die Delvaux genauestens fokussiert – zu überhöhen, dass sie aber zu Einsamkeit und Armut führen kann. Die Leidenschaft, unabhängig ob künstlerischer oder amouröser Natur, findet bei Delvaux immer wieder ihr Regulativ im Normalen, Bürgerlichen, Etablierten und Alltäglichen. Das gilt für den Schulleiter Miereveld, der von seiner herausfordernden Tätigkeit zu den Routinen des Gerichtsdieners wechselt, wie für den Autor und Archivar Mathieu oder den ‚zurückgelassenen‘ Julien, der sich in seiner Tätigkeit als Pianist nicht (oder zumindest anders) entwickelt hat, als seine nächsten Freunde, die im bürgerlichen Leben angekommen zu sein scheinen.
5. André Delvaux als Vertreter des belgischen Autorenkinos
Es konnte in den vorherigen Ausführungen detailliert gezeigt werden, dass die Filme von André Delvaux einerseits Rückbezug nehmen auf Stile und Charakteristika von Film (und Kunst generell), die zeittypisch sind: Es finden sich Verweise auf die traumartigen,gelegentlich surrealistischen, filmischen Ausdrucksweisen von Luis Buñuel, Alain Robbe-Grillet oder Alain Resnais, auch auf die Malerei und die klassische Musik. Andererseits ist der spezifische Stil, genauer gesagt, die Autorenhandschrift Delvauxs und damit die Kombination dieser Praktiken höchst einmalig und singulär. In einer Ära, in der der Autorenfilm in Europa allmählich gedeiht und spätestens in den 1970er Jahren blühte, erscheint er als markanter und höchst individueller Vertreter eines belgischen Autorenfilms und füllte damit eine Lücke, die sich erst allmählich Ende der 1970er Jahre zu schließen beginnt. Er wird international wahrgenommen und erhält Ehrungen (Berlinale, Cannes). Seine Filme werden teils sogar zuerst in Frankreich und anderen Ländern im Kino gezeigt, bevor sie in Belgien auch Anerkennung erhalten. Nicht zuletzt beschäftigen sie sich mit Themen, Traditionen, Ausdrucksformen, Ästhetiken und Motiven, die insgesamt im Kino (Subjektivität, Reflexion, etwa bei Antonioni), aber auch in der Kulturgeschichte eine Rolle spielen (Magischer Realismus in Literatur und Malerei). Abschließend lässt sich sagen, dass Delvauxs Filme trotzdem den Regionalbezug nicht vernachlässigen (was man vielleicht den oft Hollywood nacheifernden Werken von Paul Verhoeven in den Niederlanden nachsagen könnte, etwa De Vierde Man, 1983). Sie interessieren sich für soziokulturelle Umstände des Landes (z.B. den flämisch-wallonischen Konflikt) und vermitteln diese Kontroverse für ein internationales Publikum. Sie lassen sowohl die urbanen Stadträume des Landes (Brüssel, Gent) wie auch ländliche und dörfliche Gebiete in die Handlung einfließen. Und vor allem erscheint das Oeuvre von André Delvaux äußerst geschlossen, was die Themen, Figuren und Motive anbelangt, so dass jeder einzelne seiner Filme als Ausdruck eines klar erkennbaren, unbedingten, aber auch anschlussfähigen stilistischen Ausdrucks sichtbar wird.
Weiterführende Literatur
Agel, Henri/Marty, Joseph, André Delvaux: de l'inquiétante étrangeté à l'itinéraire initiatique, Lausanne, 2003.
Colvile, Georgina M. M., „Between Surrealism and Magic Realism: The Early Feature Films of André Delvaux“, Yale French Studies, 2006, No. 109, Surrealism and Its Others (2006), S. 115-128.
Delvaux, André, „Dans la nébuleuse Réalisme Magique: un carnet de bord“, Textyles, 21 | 2002, S. 79-82.
Giukin, Lenuta/Suny, Oswego, „André Delvaux and the Surrealist Dilemma“, The French Review, May, 2008, Vol. 81, No. 6, La Belgique et la Suisse (May, 2008), S. 1174-1186.
Mosley, Philipp, „André Delvaux's Alchemy of the Image“, The French Review, Apr. 1994, Vol. 67, No. 5, S. 813-823.
Lachat, Pierre, André Delvaux – Belgischer Film, Zürich, 1974.
Nysenholc, Adolphe (Hrsg.), André Delvaux ou les visages de l’imaginaire, Brüssel, 1985.
Nysenholc, Adolphe, André Delvaux ou le réalisme magique, Paris, 2006.
Anmerkungen
[1] Etwa Nysenholc, Adolphe (Hrsg.), André Delvaux ou les visages de l’imaginaire, Brüssel, 1985.
[2] Vgl. zu den Lebensdaten Nysenholc, Les visages, S. 9-20.
[3] Vgl. Delvaux, André, „Du roman au film“, in: Nysenholc (Hrsg.), Les visages, S. 119-128.
[4] Grandet, Hélène, Imaginaire et initiation dans l'oeuvre d'André Delvaux, littérature et cinéma: Johan Daisne, Suzanne Lilar, Marguerite Yourcenar, Toulouse, 2001.
[5] Vgl. Nysenholc, Les visages, S. 139.
[6] Vgl. Nysenholc, Les visages, S. 165.
[7] Vgl. https://fr.wikipedia.org/wiki/L%27%C5%92uvre_au_noir_(film) [14/05/2021].
[8] Vgl. Nysenholc, Les visages.
[9] Nysenholc, Adolphe, André Delvaux ou le réalisme magique, Paris, 2006.
[10] Agel, Henri/Marty, Joseph, André Delvaux: de l'inquiétante étrangeté à l'itinéraire initiatique, Lausanne, 2003.
[11] Z.B. Mosley, Philipp, „André Delvaux's Alchemy of the Image“, The French Review, Apr. 1994, Vol. 67, No. 5, S. 813-823. Delvaux, André, „Dans la nébuleuse Réalisme Magique: un carnet de bord“, Textyles, 21 | 2002, S. 79-82. Colvile, Georgina M. M., „Between Surrealism and Magic Realism: The Early Feature Films of André Delvaux“, Yale French Studies, 2006, No. 109, Surrealism and Its Others (2006), S. 115-128. Giukin, Lenuta/Suny, Oswego, „André Delvaux and the Surrealist Dilemma“, The French Review, May, 2008, Vol. 81, No. 6, La Belgique et la Suisse (May, 2008), S. 1174-1186.
[12] Lachat, Pierre, André Delvaux – Belgischer Film, Zürich, 1974.
[13] Z.B. Riemann, Elke, Surrealismus: Dalí, Miró, Ray, Tanguy, Delvaux, Halle/Saale, 2009.
[14] Vgl. Christen, Thomas, Vom Neorealismus zur Nouvelle Vague, Filmische Erneuerungsbewegungen 1945-1968, Marburg, 2016, S. 20-58.
[15] Vgl. Christen, Vom Neorealismus… , S. 178-202. Astruc, Alexandre, „Naissance d’une nouvelle avant-garde: la caméra-stylo“, L’Ecran français 3/1948, S. 23-44.
[16] Vgl. Christen, Vom Neorealismus… , S. 246-308.
[17] Vgl. Sojcher, Frédéric, Le cinéma belge et l'Europe : institutions et identités culturelles, Paris, 1996.
[18] https://www.youtube.com/watch?v=4xrf0UHCBt0 [02.07.2021].
[19] https://www.youtube.com/watch?v=uTN2FVjDoGw [02.07.2021].
[20] https://www.youtube.com/watch?v=nZrfwKs7nGk [02.07.2021].
[21] Denis, Benoît/Klinkenberg, Jean-Marie, La littérature belge: précis d'histoire sociale, Brüssel, 2005, S. 226-262.
[22] Schmidhofer, David, Zugänge zum magischen Realismus in der flämischen Literatur, Wien, 2005. http://magischer-realismus.nl-de.com/index.html [14/05/2021].
[23] Vgl. https://www.vrt.be/vrtnws/de/2019/11/07/der-mann-der-zuege-liebte-paul-delvaux-in-der-train-world/ [14/05/2021].
[24] Z.B. bei Colvile, „Between Surrealism…“, S. 120. Giukin/Suny, „Surrealist Dilemma…“, S. 1176.
[25] In einer Rückblende erhält Julien nach einem von Neuil organisierten Konzert einen größeren Geldbetrag von einem reicheren Gönner, den er erbost ablehnt.