I. Der Einfluss Belgiens auf den Europäischen Integrationsprozess

Als Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1951), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957) wie auch der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG, 1957) gehört Belgien seither zu den bedeutendsten Fürsprechern der europäischen Integration. Für die Belgier stellt der Prozess der europäischen Integration ein wichtiges politisches Projekt dar, das dem heutigen föderalen Staat die Möglichkeit eröffnet, seinen politischen Einfluss auf der internationalen Bühne zu vergrößern.

Paul-Henri Spaak. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-39998-0427 / CC-BY-SA 3.0

Bereits unter Außenminister Paul-Henri Spaak setzte sich Belgien in den 1960er Jahren in seiner Europapolitik verstärkt für den europäischen Integrationsprozess ein. Paul-Henri Spaak gilt heute als ein bedeutender Pionier eines geeinten Europas, der in seiner Amtszeit das außenpolitische Ziel eines engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker verfolgte wobei die Nationalstaaten allmählich ihre Kompetenzen an eine übergeordnete Behörde  - die heutige Europäischen Union - übertragen sollten. Doch von Seiten des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle kam Gegenwind, da dieser vielmehr die Vorstellung eines „Europas der Vaterländer“ verfolgte und eine vertiefte europäische Integration in den 1960er Jahren vehement ablehnte. Seine Vision war ein Europa der Staaten, aber kein Europa über den Staaten. Die Integration Europas würde seiner Auffassung nach zur Auflösung europäischer Nationen führen. Dadurch rückte wieder verstärkt die Wahrung nationalstaatlicher Interessen in den Vordergrund, als Gegenpol zur Vision einer vertieften europäischen Integration. Paul-Henri Spaak hatte schnell erkannt, dass der Platz Belgiens innerhalb eines weit größeren Verbundes sei, im Rahmen dessen die nationalen Interessen besser verwirklicht werden konnten. Spaak war zutiefst davon überzeugt, dass Belgien sich politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich nur entfalten könne, wenn das Land in erster Linie europäisch denken und handeln würde. Bei Gesprächen mit dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer betonte Spaak die Notwendigkeit zur Fortsetzung eines politisch getragenen Einigungswerks und verwies auf die Gefahr hin, dass die Erweiterung eines wirtschaftlichen Europas die Ausdehnung einer politischen Gemeinschaft hemmen könnte. Von den politischen Dynamiken der Zeit geleitet, sowie angesichts des französischen Widerstands rückte die zwischenstaatliche Zusammenarbeit auf europäischer Ebene stärker in den Vordergrund.

In den 1970er Jahren beteiligte sich Belgien unter Ministerpräsident Leo Tindemans aktiv an der Umsetzung der europäischen Integration, die er zur Herzenssache erklärte. Tindemans wurde vom Europäischen Rat damit beauftragt, einen Bericht zur Lage der europäischen Gemeinschaft zu erarbeiten, der als Richtschnur für Integrationsfortschritte in Krisenzeiten dienen sollte. Tindemans pochte entgegen allen Widerstands anderer Mitgliedstaaten darauf, dass die Übertragung von nationalen Kompetenzen an gemeinsame europäische Organe eine Notwendigkeit sei.

Belgien gilt nach wie vor als der europäischste aller EU-Mitgliedstaaten, der sogar jederzeit die eigene Souveränität zu Gunsten eines föderalen Europas einzutauschen gewillt ist. Auch innerhalb des Rates der Europäischen Union (Ministerrat), wo die jeweiligen Interessen der Mitgliedstaaten vertreten sind, wird deutlich, dass Belgien zu jenen Ländern gehört, die bei europapolitischen Fragen meistens die Position der EU-Kommission verfolgen.

Ein flüchtiger Blick auf die politische und kulturelle Geschichte des Landes verdeutlicht, dass die europapolitische Ausrichtung Belgiens gewissermaßen in der geopolitischen DNA des Föderalstaates verankert ist. Gemeinsam mit den Niederlanden bildet Belgien einen Außenposten zur angelsächsischen Welt, der auf eine verstärkte transatlantische Beziehung ausgelegt ist.

Belgien hat seit Beginn der Entstehung des europäischen Integrationsprojekts schnell erkannt, dass in einer globalisierten Welt, globale Herausforderungen und Krisen nur in Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten zu bewältigen sind.Der belgische integrationspolitische Einsatz gilt in besonderem Maße der weiteren Integration und Vertiefung der EU, der Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, der Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit sowie der Migrationspolitik.

Leo Tindemans. Quelle: siehe unten.

II. Belgiens strategische Partner in der EU

Mit seinen rund 11 Millionen Einwohnern gehört Belgien zu den kleineren Mitgliedstaaten, weshalb die belgische Europapolitik innerhalb Westeuropas das Ziel verfolgt, die Position kleinerer Länder durch eine engere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zu stärken. Der Dreierbund BENELUX (Belgien, die Niederlande, Luxemburg) ist insbesondere in europäischen Fragen zu einem wichtigen Akteur auf europäischer Ebene avanciert. Die Benelux-Staaten stimmen sich traditionsgemäß in europapolitischen Fragen eng miteinander ab, um auf EU-Ebene ihre Interessen gegenüber größeren Mitgliedstaaten wie Deutschland, Frankreich, Italien oder den Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei) besser durchsetzen zu können. Die jahrzehntelange Zusammenarbeit zwischen den Benelux-Staaten hat sich auf europäischer Ebene insofern zu einer Besonderheit entwickelt, als dass sich die Regierungs- und Staatschefs bei den Gipfeltreffen des Europäischen Rates sich im Vorfeld gegenseitig eng beraten, wie es bei den hohen Beamten in den Außenministerien bei ihren Sitzungen der Fall ist. In den Diskussionen über die Zukunft der EU treten die Benelux-Staaten überwiegend als gemeinsamer Block auf.

Während in der Vergangenheit die Benelux-Staaten (Belgien 12, die Niederlande 13, Luxemburg 4) nach dem Abstimmungsverfahren des Nizza-Vertrags gemeinsam ein Stimmengewicht hatten, das dem von Deutschland (29) oder Frankreich (29) entsprach, ist dies aufgrund der Änderung der Abstimmungsverfahren im Lissabon-Vertrag seit 2014 nicht mehr der Fall. (Nach dem Lissabon-Vertrag fußt das Stimmengewicht im Ministerrat bei Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit auf zwei Abstimmungsmodalitäten, nämlich dem Bevölkerungsquorum (65% der EU-Bevölkerung) sowie dem Mitgliedstaatenquorum (55% = derzeit 16 der Mitgliedstaaten)). Nach der alten Regelung des Nizza-Vertrags verfügte Deutschland über so viele Stimmen wie Belgien, die Niederlande und Luxemburg zusammen. Mit Blick auf das demografische Kriterium spielen bevölkerungsreiche Länder wie Deutschland, Frankreich, (Großbritannien) und Italien eine stärkere Rolle bei der Entscheidungsfindung im Ministerrat. Neben Wirtschaftskraft, Geografie, dem politischen System wird die Verhandlungsmacht eines Mitgliedsstaates nun auch durch die Bevölkerungsgröße bestimmt.

Die Benelux-Staaten treten auf europäischer Bühne immer wieder als Brückenbauer auf. So findet z. B. Belgien als europäisches Kompromissland in Frankreich und bei den europäischen Institutionen mehr Gehör und kann die nationale Position des jeweiligen Mitgliedstaates wirkungsvoller beeinflussen. Ebenso wie bei seinen traditionellen Partnern, den Niederlanden und Luxemburg, hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Belgien nur innerhalb einer starken Union seine Interessen verfolgen kann. Ein weiterer Grund, weshalb Belgien sich in seiner Europapolitik meistens zugunsten einer vertieften europäischen Zusammenarbeit ausgesprochen hat, liegt darin, dass die europäischen Institutionen die Machtpositionen größerer Mitgliedstaaten wie Deutschland, Frankreich, Italien oder Spanien in ein Gleichgewicht bringen. Davon profitieren kleinere Länder wie Belgien, Luxemburg oder die Niederlande.

III. Belgiens Präsenz in der EU heute

Belgien soll in der neuen EU-Kommission unter der deutschen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen durch den langjährigen belgischen Außenminister Didier Reynders als Justizkommissar vertreten werden. Das Präsidentenamt des Europäischen Rates wird der ehemalige belgische Premierminister Charles Michel für die nächsten zwei Jahre bekleiden. Er ist somit der zweite Belgier in diesem Amt.

- Von Ermal Ndini,  Brüssel -

 

Quelle zum Bild Leo Tindemans':