Am 30. Juni 1960 erlangte die heutige Demokratische Republik (DR) Kongo ihre Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Belgien. Etwa 85 Jahre koloniale Unterdrückung, wirtschaftliche Ausbeutung und politische Fremdherrschaft haben sowohl in der ehemaligen Kolonie als auch Belgien Spuren hinterlassen. Eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte hat in Belgien von offizieller Seite aus bislang kaum stattgefunden. Stattdessen wurden historische Ereignisse lange Zeit geleugnet, verklärt oder verschwiegen, wie bspw. im Fall des ermordeten Ministerpräsidenten Patrice Lumumba, der am 17. Januar 1961 in Katanga mit Unterstützung der belgischen Geheimpolizei getötet wurde. Bis 1999 bestritten die belgische Regierung und das Königshaus eine Beteiligung an diesem politischen Mord – bis der belgische Sozialwissenschaftler Ludo de Witte in einer Studie nachweisen konnte, dass hohe Regierungsbeamte und König Baudouin über Lumumbas Exekution informiert waren.[1] Auch in den Medien, an Schulen und Universitäten sowie im öffentlichen Raum sind große Leerstellen bezüglich einer Aufarbeitung der belgischen Kolonialgeschichte zu beobachten: Während die klassischen Medien die koloniale Unterdrückung im Kongo – mit einigen wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel der liberalen Tageszeitung Le Soir oder dem linken Magazin agir par la culture – kaum besprechen und kritische Reflexionen in den Bereichen Bildung und Forschung nur vereinzelt stattfinden, ist die ehemalige belgische Kolonie im Alltag vieler Belgier*innen in Form von Denkmälern, Monumenten und Straßennamen präsent. Dabei gedenken diese ‚stummen Zeitzeugen‘ allerdings nicht etwa der Opfer des belgischen Kolonialismus’, sondern ehren die belgischen ‚Pioniere‘, die einst als angebliche ‚Philanthropen‘ in Richtung Afrika aufbrachen, um den Afrikaner*innen die vermeintliche ‚Zivilisation‘ zu bringen. Vor dem Hintergrund dieses undifferenzierten Umgangs mit der Kolonialvergangenheit spricht der belgische Historiker Antoon Van den Braembussche von einem ‚historischen Tabu‘, das er insbesondere in Bezug auf die Aufarbeitung der sogenannten Kongogräuel unter Leopolds II. Kolonialherrschaft beobachtet:

Noch aussagekräftiger und überraschender ist das völlige Schweigen über die [kolonialen] Gräueltaten. Millionen von Menschen wurden getötet, was den kongolesischen Holocaust[[2]] wahrscheinlich zu einem der am meisten vergessenen Massenmorde der Neuzeit macht. Diese dunkle Episode der belgischen Geschichte wurde aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Sie ist umgeben von Stille und einer Politik des Vergessens (2002: 43-44).*

Auch international wurde die belgische Geschichtspolitik aufgrund dieser Leerstelle gerügt: Im Jahre 2019 forderte eine Expertengruppe der Vereinten Nationen (UN) Belgien dazu auf, sich eingehender und kritischer als bisher mit der Kolonialvergangenheit auseinanderzusetzen.[3] Die UN-Experten kamen dabei zu folgendem Schluss: „Es scheint eine Mauer der Stille um die Kolonialisierung zu geben“[4].* Doch seit der Jahrtausendwende ist ein Paradigmenwechsel in der Zivilgesellschaft zu beobachten, die sich in Initiativen und in der Kunst gegen die Verklärung von Kolonialgeschichte engagiert und die Übernahme von Verantwortung auf Seiten des belgischen Staates zu erwirken versucht.

Die Rolle von Staat, Könighaus und den Medien

Im Hinblick auf eine postkoloniale Geschichtspolitik polarisiert insbesondere die positiv besetzte Erinnerung an Leopold II.[5] Gleichzeitig blieb der alltägliche Rassismus gegen Afrikaner*innen, die illegale Landnahme, die Versklavung und ausbeuterische Praxis – letzteres v.a. im Zuge der sogenannten Kongo-Gräuel – in offiziellen staatlichen und königlichen Äußerungen nach 1960 weitestgehend unerwähnt.

Das Reiterdenkmal, das Leopold II. zu Ehren im Jahre 1926 an der Place du Trône in Brüssel errichtet wurde (CC EmDee).

Im schulischen Geschichtsunterricht vermittelte man Leopold II. lange Zeit als ‚mildtätigen Philanthropen‘, der den Kongo mit ‚paternalistischem Eifer‘ vom arabischen Sklavenhandel befreit habe. Erst nach dem Tod von Leopolds II. Großneffen und Nachfolger Baudouin (1993) sowie den tragischen Ereignissen im Zuge des rwandischen Genozids (1994), der in Europa offene Fragen nach den direkten Nachwirkungen des Kolonialismus’ mit sich zog, öffneten sich Staat und Königshaus für einen aufgeklärteren Diskurs über die ehemalige Kolonie.

Das AfricaMuseum

Im Kontext der staatlichen Geschichtspolitik nimmt – neben anderen ethnographischen Museen in Belgien wie dem Musée Africain de Namur das AfricaMuseum im Brüsseler Vorort Tervuren (früher: Musée Royal de l’Afrique Centrale) eine polarisierende Rolle ein. Ausgewiesenes Ziel des von Leopold II. im Jahre 1897/98 gegründeten Museums war es, die zunächst skeptische Bevölkerung in Belgien vom ‚Mehrwert‘ der kolonialen Unternehmung zu überzeugen.

Das AfricaMuseum im Brüsseler Vorort Tervuren kurz nach der Wiedereröffnung 2019 (J. Bobineau).

Die Konzeption des Museums propagierte von Beginn an die ‚philanthropische Zivilisierungsmission‘ Leopolds II. in der kongolesischen Privatkolonie bei gleichzeitiger rassistischer Betonung einer angeblichen ‚afrikanischen Unterlegenheit‘,[6] was mitunter von den belgischen Wissenschaften – vor allem der Ethnologie und der Anthropologie – pseudowissenschaftlich unterstrichen wurde.[7] Die ‚belgische Überlegenheit‘ wurde in der musealen Darstellung dabei insbesondere durch die plakative Gegenüberstellung von ‚wilden, nackten, unterentwickelten Kongoles*innen‘ und ‚zivilisierten, bekleideten, entwickelten Belgier*innen‘ erzeugt. Bis zu einer umbaubedingten Schließung zwischen den Jahren 2013 und 2018 behielt das AfricaMuseum diese koloniale Dichotomie in Teilen bei. Doch auch heute ist das aktualisierte Konzept der staatlichen Einrichtung auf vielen Ebenen diskussionswürdig, insbesondere in Bezug auf die Beteiligung der kongolesischen Diaspora im Management des Museums oder hinsichtlich der Provenienz der eigenen Sammlung.[8] Das Museum besitzt noch immer etwa 125.000 ethnographische Objekte und mehrere Millionen biologische Exponate, die zum Großteil während der Kolonialzeit von Mitgliedern belgischer Expeditionen ‚erworben‘ wurden und nach Tervuren gelangten: „Die ersten Expeditionen im Kongo zugunsten des Museums wurden meist von Militärs oder Geologen geleitet. Während dieser ersten Stunde trug die Kolonisation nämlich das Siegel der militärischen Eroberung des Territoriums und der wirtschaftlichen Ausbeutung der Region, und die Mitglieder Expeditionen stellten Sammlungen für die verschiedenen Sektionen des Museums zusammen“[9].* Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Fragen nach Objektprovenienz und Restitution, wie sie bspw. 2018 in Frankreich durch den Restitutionsbericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr angestoßen wurde, hat in Belgien bislang kaum stattgefunden.

Belgien und Rwanda

Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts und der Publikation des kritischen Sachbuches King Leopold’s Ghost (1998), das vom US-amerikanischen Journalisten Adam Hochschild verfasst wurde und Leopolds II. Kolonialherrschaft im Kongo als ‚Genozid‘ und ‚Holocaust‘ bezeichnet, stieg der öffentliche Druck auf die belgische Politik in Bezug auf den Umgang mit der kolonialen Verantwortung allerdings an. Hochschild stellte die These auf, dass während der Kolonialherrschaft von Leopold II. etwa die Hälfte der damals 20 Millionen kongolesischen Bewohner*innen durch Zwangsarbeit, Sklaverei, Mord und Unterernährung zu Tode kam.[10] Hochschilds provakante Thesen lösten in der Folge – zusammen mit Ludo de Witte Enthüllungen zum Lumumba-Mord – allerdings eine Polemik um die Übernahme von Verantwortung, die Zahlung von Reparation und koloniale ‚Schuld‘ aus. Dies führte schließlich zum öffentlichen Eingeständnis einer historischen Teilschuld am Rwanda-Genozid (1994) durch den belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt in Kigali (2000), da.[11] Verhofstadts Nachfolger im Amt des belgischen Ministerpräsidenten, Charles Michel, wiederholte diese politische Geste im Jahre 2019 anlässlich einer Gedenkveranstaltung in Kigali und betonte, dass Belgien eine Mitverantwortung am Genozid trage, da der Völkermord im Zuge einer Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft nicht verhindert wurde (cf. Pint 2019). Sowohl Michel als auch Verhofstadt ließen die kolonialhistorische Verantwortung Belgiens in ihren Reden allerdings weitestgehend außer Acht: Nachdem der deutsche Afrikareisende Gustav Adolf von Götzen in der zunächst deutschen Kolonie Rwanda-Urundi (1884-1916) das komplexe vorkoloniale und dynamische Lehenssystem der sozialen Einteilung von Hutu und Tutsi rassifizierte und an angeblich äußerlich erkennbare Merkmale wie Nasenform knüpfte, führten die Belgier die rassistische Praxis der ‚ethnischen‘ Einteilung nach der Übernahme der Kolonie als Mandatsgebiet ab 1916 fort und verstärkten diese. So behauptete der belgische Kolonialgouverneur von Rwanda-Urundi, Pierre Ryckmans:

Die Tutsi sind zum Herrschen geschaffen. Ihr feines Auftreten ist an sich genug, um ihnen ein höheres Ansehen gegenüber den untergeordneten Rassen zu verschaffen, die sie umgeben [...]. [E]s überrascht nicht, daß die guten Hutu, weniger intelligent, einfacher im Gemüt, spontaner und gutgläubiger, sich haben versklaven lassen, ohne jemals eine Revolte zu wagen (zit. nach Heeger 1998: 22).

Die Minderheit der Tutsi wurde von den belgischen Autoritäten fortan privilegiert behandelt und lokal an der Ausübung kolonialer Herrschaft beteiligt, während die Mehrheit der Hutu zu Zwangsarbeit im Dienste des belgischen Kolonialstaates und der sozial höhergestellten Tutsi verpflichtet wurden. Nachdem die Zugehörigkeit zu einer ‚Ethnie‘ als ‚Rassenkategorie‘ in die Personalpapiere eingetragen werden musste und sozialer Aufstieg zwischen den einzelnen Gruppen nicht mehr möglich war, wuchs der Unmut innerhalb der unterdrückten Gruppe der Hutu weiter an. Dies führte 1959 zu einem ersten Genozid an den kolonial privilegierten Tutsi, dem 1994 der zweite Völkermord an den Tutsi mit über einer Millionen Tote folgte.

Langsamer Paradigmenwechsel zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Zwei Jahre nach Verhofstadts politischer Geste in Kigali sprach der belgische Außenminister Louis Michel im belgischen Parlament überdies eine offizielle Entschuldigung aus, in der er um Vergebung für die Verwicklungen in die Ermordung Lumumbas bat (2002). Im Anschluss an die Veröffentlichung der Ergebnisse einer parlamentarischen Untersuchungskommission, im Rahmen derer vier ausschließlich belgische Historiker[12] die belgische Verantwortung am Tod Lumumbas erörterten und zum Ergebnis einer ‚moralischen Teilschuld‘ kamen,[13] wandte sich Michel mit folgenden Worten an das Parlament und die anwesende Familie Lumumbas:

Die Regierung hält es [...] für angebracht, der Familie von Patrice Lumumba [...] und dem kongolesischen Volk ihr tiefes und aufrichtiges Bedauern und ihre Entschuldigung für den Schmerz auszusprechen, der ihnen durch diese Gleichgültigkeit und kalte Neutralität zugefügt wurde (Chambre des représentants de Belgique 2002: 50-51).*

Die während der Rede von Michel versprochene Einrichtung einer Lumumba-Stiftung zum Wohle der kongolesischen Jugend[14] wurde indes allerdings nicht umgesetzt. Denn in der Folge rückte die weitergehende Aufarbeitung der Kolonialzeit und die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen durch offizielle Stellen in Belgien im Schatten von innenpolitischen Skandalen und föderalen Herausforderungen – darunter die Dutroux-Affäre und diverse Regierungskrisen –in den Hintergrund. Erneuten Auftrieb erfuhr die Debatte um die Vergangenheit Belgiens, nachdem das Sachbuch Congo: Een geschiedenis (2010) von David Van Reybrouck, das durch zahlreiche Übersetzungen zum internationalen Bestseller geworden war. Der Autor zeichnet hierin mithilfe eines anekdotischen Erzählstils die Geschichte der kongolesischen Kolonie und des belgischen Einflusses in z.T. sehr subjektiver Form nach, wofür der flämische Anthropologe v.a. von Historiker*innen kritisiert wurde. Van Reybroucks erfolgreicher Publikation ist es jedoch letztlich zu verdanken, dass Belgier*innen in allen Landesteilen mit der belgischen Kolonialvergangenheit konfrontiert wurden.

Zwei Publikationen, die in Belgien für Diskussionen sorgten: Congo, Een geschiedenis und King Leopold’s Ghost.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Brüssel als postkoloniale Metropole

Obgleich die größte Anzahl an Kongoles*innen aus der Diaspora in Frankreich lebt, ist der Brüsseler Stadtteil Ixelles eine kongolesische Enklave mitten im Herzen Europas. Ixelles wird in Anlehnung an das Zentrum der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa von seinen Bewohner*innen auch ‚Matongé‘ genannt, da besonders viele Geschäfte wie Friseurläden, Büchereien, Lebensmittelgeschäfte, Restaurants und Mode-Boutiquen von kongolesischen Auswander*innen, Belgo-Kongoles*innen oder Afrikaner*innen aus anderen Nationen betrieben werden.[15]

Der Brüsseler Stadtteil Ixelles, der wegen seiner vielen kongolesischen Bewohner*innen auch ‚Matongé‘ genannt wird (CC Christopher Soghoian).

Im Gegensatz zu diesem diversifizierten und lebendigen Stadtviertel stellen viele Gebäude, Monumente und Bauwerke, die während der Kolonialzeit errichtet wurden, noch heute stille und zum Großteil unkommentierte Zeugnisse der kolonialen Ausbeutung inmitten der belgischen Hauptstadt dar: Zahlreiche Denkmäler in Brüssel – und auch in anderen Städten Belgiens – ehren noch heute die ‚Pioniere‘, die im Rahmen der belgischen ‚Zivilisierungsmission‘ in den Kolonien verstarben.[16] Die zahlreichen kongolesischen Opfer, die während der Kolonisation den Tod fanden, werden im öffentlichen Raum hingegen nicht erwähnt. Auch die Finanzierung vieler Gebäude im Art Nouveau-Stil haben einen kolonialen Kontext: So wurde bspw. der Triumphbogen des Parc du Cinquantenaire aus Mitteln von Leopolds II. Fondation de la Couronne finanziert,[17] die ihre Gewinne im Zuge des Kautschuk-Booms maßgeblich im Kongo durch den Einsatz von Zwangsarbeiter*innen erwirtschaftete.

Der Triumphbogen im Brüsseler Parc du Cinquantenaire wurde aus Mitteln der Fondation de la Couronne finanziert und 1905 fertiggestellt. Die königliche Stiftung verwaltete Gelder, die größtenteils von Leopold II. im Kongo ‚erwirtschaftet‘ wurden (CC Zairon).

Kolonialrassistische ‚Traditionen‘ und Praktiken

Diese in Summe unreflektierte Geschichtspolitik hat dabei weitreichende Konsequenzen für das soziale Zusammenleben in Belgien: Noch heute sind Relikte der Kolonialzeit in Form von kolonialrassistischen Praktiken, reaktionären Haltungen oder neueren Rassismen präsent, die den ‚weißen‘ Paternalismus rühmen, eine Unterordnung der ‚schwarzen‘ Bevölkerungen propagieren oder die Idee einer erneuten Kolonisierung des Kongo äußern.[18] So treten regelmäßig Erscheinungen von Polizeigewalt gegen ‚schwarze‘ Belgier*innen auf, wenn Polizist*innen die Praktik des Racial Profiling anwenden und – wie im Falle des belgischen Staatsbürgers Joshua Twambi – davon ausgehen, dass sich ‚Schwarzsein‘ und die belgische Staatsbürgerschaft widersprechen.[19]

Der Sauvage d’Ath, der jedes Jahr im Rahmen des Stadtfestes von Ath als ‚Wilder‘ auftritt und die Besucher*innen erschreckt. Das kolonialrassistische Blackfacing, die Ketten und der Federhut sind fester Bestandteil des ‚Kostüms‘ (CC Daniel71953).

Eine wesentliche Rolle in der postkolonialen Alltagskultur vieler belgischer Regionen spielt zudem die kolonialrassistische Praktik des Blackfacing: Während der Zwarte Piet in Flandern[20] bzw. der Père Fouettard in Wallonien als Knecht des Nikolaus’ die unartigen Kinder bestraft[21] und die Noirauds de Bruxelles seit 1876 – dem Beginn der Kolonisation des Kongo durch Leopold II. – Geld für ‚Bedürftige‘ sammeln, dient der in Ketten gelegte Sauvage d’Ath während des Stadtfestes von Ath als ‚wildes Monstrum‘, das Besucher*innen erschrecken soll.

Die Gruppe der Noirauds de Bruxelles wurde 1876 gegründet. Seit mehreren Jahren steht die Vereinigung wegen der kolonialrassistischen Praktik des Blackfacing in der Kritik (CC Michel wal).

Allen Figuren ist gemein, dass sie durch ‚weiße‘ Personen repräsentiert werden, die ihre Gesichter schwarz färben. Dieses Vorgehen stammt aus dem 19. Jahrhundert, als sich ‚weiße‘ Schauspieler*innen in den USA im Zuge der sogenannten Ministrel Shows über afroamerikanische Sklav*innen lustig machten, indem sie diese mit schwarzgefärbtem Gesicht vor einem ‚weißen‘ Publikum als überzeichnet naiv, immerzu fröhlich und wenig intelligent darstellten. Als Praktik verbreitete sich das Blackfacing weiterhin auch in Europa und wurde unter anderem eingesetzt, um den Kolonialismus durch die abwertende, stereotype Darstellung von Afrikaner*innen zu rechtfertigen und die angebliche ‚Minderwertigkeit‘ der kolonisierten Bevölkerungen kulturell zu unterstreichen. Das rassistische Blackfacing ist bis heute in keinem westeuropäischen Land mit Kolonialvergangenheit offiziell durch staatliche Stellen geächtet worden, auch wenn sich verschiedene Initiativen für eine Verbot einsetzen.

Wachsende Kritik aus Kunst und Gesellschaft

Seit dem Jahr 2000 ist jedoch eine stetig steigende Kritik innerhalb von Teilen der belgischen Gesellschaft zu beobachten, einhergehend mit der Intention, der mitunter verklärenden staatlichen Geschichtspolitik zu widersprechen und einen kritischeren Blick auf die belgisch-kongolesische Kolonialvergangenheit zu fordern. Neben zivilgesellschaftlichen Vereinigungen sind es insbesondere Schriftsteller*innen, Künstler*innen und Musiker*innen, die sich in die Debatte einbringen (cf. Abrassart/Demart 2016): So übergoss bspw. Théophile de Giraud im Jahre 2008 am Reiterstandbild von Leopold II., das sich noch heute an der Place du Trône befindet, mit roter Farbe, um gegen die positive Erinnerung an den Kolonisatoren des Kongo zu protestieren.[22]

Der Künstler Théophile de Giraud protestierte 2008 gegen das positive Bild von Leopold II. in der rezenten Geschichtspolitik (The Bulletin)

Hierneben beteiligen sich auch der belgische Maler Luc Tuymans, der belgo-kongolesische Musiker Baloji, der kongolesische Fotograph Sammy Baloji sowie die belgischen Schriftsteller*innen Laurent Demoulin, Hugo Claus, Jean Leroy oder Anita Van Belle mit multiperspektivischen Kunstwerken an den Diskursen über die Kolonialvergangenheit und die offizielle Erinnerung. Zu den kolonialkritischen Organisationen aus der Zivilgesellschaft zählen bspw. das Collectif Mémoire Coloniales et Luttes contre les Discrimination (CMCLD), De Stoete Ostendenoare oder die Bruxelles Panthères: Während die Organisation CMCLD postkoloniale Stadtrundgänge in Brüssel anbietet und sich Bruxelles Panthères der Bekämpfung von kolonialrassistischen Alltagsphänomenen wie dem Blackfacing verschrieben haben, trennte die anarchistische Gruppe De Stoete Ostendenoare im Jahre 2004 die Hand einer kongolesischen Figur am Reiterdenkmal von Leopold II. im Strandbad Ostende ab. Ziel war es, auf die Gräueltaten während Leopolds II. Kolonialherrschaft aufmerksam zu machen und die offizielle Geschichtspolitik in Frage zu stellen.

Das Reiterstandbild im belgischen Strandbad Ostende, das Leopold II. als Philanthropen und Visionär inszeniert. Im Jahre 2004 trennte die Gruppierung De Stoete Ostendenoare der kongolesischen Figur am linken Rand die Hand ab, um die belgische Erinnerungskultur zu kritisieren (CC Georges Jansoone).

Die Stadtverwaltung von Ostende reagierte im Nachgang – allerdings nicht, indem sie das Denkmal restaurieren ließ. Vielmehr installierten kommunale Vertreter eine zusätzliche Tafel am Monument, welche die abgetrennte Hand mit dem Hinweis auf die Kongo-Gräuel und durch weiterführende Informationen fortan kontextualisierte. Dies macht deutlich, dass der Protest gegen die zum Teil verklärende staatliche Geschichtspolitik Wirkung zeigt. So auch im Falle der Initiative Une Place Lumumba à Bruxelles, pourquoi pas?: Der sozialistische Oberbürgermeister Philippe Close gab den jahrelangen Demonstrationen im Brüsseler Stadtteil Ixelles schließlich nach und ließ am 30. Juni 2018 einen Lumumba-Platz neben der Metro-Haltestelle Porte de Namur einweihen. Der neue Square Patrice Lumumba ist dabei nur knapp 400 Meter vom Reiterstandbild Leopolds II. an der Place du Trône entfernt und ebnete den Weg für weitere Initiativen. Während bspw. die flämische Stadt Kortrijk im Jahr 2019 die Leopold II Laan umbenannte, prüfen aktuell auch weitere Städte in Belgien die Umbenennung von Straßen, Plätzen und Orten, die Leopolds II. Namen tragen.

- Von Dr. Julien Bobineau, Julius-Maximilans-Universität Würzburg -

(* Übersetzung: J.B.)

 

 

Quellen und weiterführende Literatur:

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Berthier, Aurélien (2019): Le folklore belge sous influence coloniale. Entretien avec Julien Truddaïu, https://www.agirparlaculture.be/le-folklore-belge-sous-influence-coloniale, last checked on 13 May 2020.

Bilterijs, Martin (2019): ‚Si ça ne vous plaît pas, retournez à Kinshasa.‘ Altercation raciste dans un train vers Liège, https://www.rtbf.be/info/societe/detail_si-ca-ne-vous-plait-pas-retournez-a-kinshasa-altercation-raciste-dans-un-train-vers-liege?id=10343700, last checked on 13 May 2020.

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Witte, Ludo de (2001): Regierungsauftrag Mord. Der Tod Lumumbas und die Kongo-Krise, Leipzig: Forum Verlag.

 

Endnoten:

[1] Siehe Witte 2001; Bobineau 2019.

[2] Die Übertragung des Holocaust-Begriffes auf die Kongo-Gräuel ist in der Forschung äußerst umstritten, siehe zum Beispiel De Mul 2012.

[3] Siehe Messoudi 2019.

[4] Zit. nach Cessou 2019.

[5] Siehe Bobineau 2019a: 40-96.

[6] Siehe Rahier 2003.

[7] Siehe Poncelet 2008.

[8] Siehe Bobineau 2019b.

[9] Couttenier 2010: 73.

[10] Auch wenn davon auszugehen ist, dass Kongoles*innen während der Kongo-Gräuel millionenfach an den direkten und indirekten Folgen von Zwangsarbeit, Folter und Vergewaltigung verstarben, ist an dieser Stelle einzuwenden, dass Hochschilds Berechnungen angesichts von fehlenden Belegen als deutlich übertrieben erscheinen.

[11] Siehe Melvern 2006: 256

[12] Kongolesische Historiker*innen hatte man aufgrund einer möglichen ‚Befangenheit‘ ausgeschlossen, was in Anbetracht der Tatsache, dass vier ausschließlich belgische Historiker nun allein über den Fall entschieden, fadenscheinig wirkt. Nach öffentlichem Druck ernannte die Kommission den Historiker Jean Omasombo Tshonda zum Ad-Hoc-Experten, der von den Mitgliedern der Kommission nach Bedarf konsultiert werden, jedoch keine Zugangsberechtigung zu vielen Archiven hatte. Omasombo Tshonda betrachtete seine eigene Rolle im Kontext der Kommissionsarbeit rückblickend als „[...] schwarze Bürgschaft einer Unternehmung, die schön ‚weiß-belgisch‘ geblieben ist“ (zit. nach Villers 2004: 204).*

[13] Siehe Bobineau 2019a: 150-152.

[14] Siehe ibid: 52.

[15] Siehe Diekmann/Cloquet 2015: 44-59; De Michele 2011: 311-336.

[16] Siehe Stanard 2019.

[17] Siehe Catherine 2010.

[18] Siehe Berthier 2019.

[19] Twambi wurde bei einer Kontrolle in einem Zugabteil von einem Polizisten genötigt und fotografiert. Als sich der in Belgien geborene Twambi verbal der unrechtmäßigen Kontrolle verwehrte, entgegnete der Polizist: „Wenn Ihnen das nicht gefällt, dann gehen Sie zurück nach Kinshasa“ (Bilterijs 2019).*

[20] Siehe zur Polemik um die Figur des Zwarte Piet in den an Flandern angrenzenden Niederlanden z.B. Euwijk / Rensen 2017.

[21] Siehe Robert 2016: 57-63; Ceuppens 2018.

[22] Siehe Stanard 2019: 209.