Jenseits der Interkulturalisierung
der flämischen Filmlandschaft:
Das junge Werk von Anthony Nti und Chingiz Karibekov

— Von Joline Vermeulen, Amsterdam —

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Inhaltsverzeichnis:

    1. Diskurswechsel in der Kinolandschaft: Von der flämischen Nation zur interkulturellen Realität
    2. “Boi”: (Bulgarische) Bruderschaft am (Genter) Seehafen
    3. “Da Yie”: Universelle Machtverhältnisse in Ghana
    4. “De Shaq”: Humorvolles Spiel mit flämischen Stereotypen
    5. Mikro-Erzählung versus Makro-Thematik: Der Anfang eines neuen interkulturellen Filmstils?
    6. Anmerkungen
    7. Quellen

Abstract

Mit ihrer ersten Produktion “Boi” (2016) gewannen sie Preise auf den Kinofestivals von Gent und Leuven, “Da Yie” (2019) stand auf der Longlist für den Oscar für den besten Kurzfilm und “De Shaq” (2020) ist die erste flämische Fernsehserie, in der ein schwarzer Schauspieler die Hauptrolle spielt. Schon seit dem Anfang ihrer kreativen Synergie bilden die jungen Filmemacher Anthony Nti und Chingiz Karibekov ein erfolgreiches Duo; und dies sowohl inner- als auch außerhalb der subnationalen Filmlandschaft Flanderns.

[Abb. 1: Anthony Nti & Chingiz Karibekov (© Bart Baevegems, via Cinevox)]

Die niederländische Zeitung NRC bezeichnete sie wegen ihrer Dynamik und des kulturellen Tiefgangs ihrer Erzählungen als die vielversprechendsten Filmemacher im Benelux-Raum, während sie in sozialen Medien mit den flämisch-marokkanischen Regisseuren Adil El Arbi und Bilall Fallah  verglichen werden.[1] Der Erfolg der Filme “Image” (2014), “Black” (2015) und “Gangsta” (2018) führte dieses letzte Duo nach Hollywood, wo sie “Bad Boys for Life” (2020) mit Will Smith und Martin Lawrence in den Hauptrollen inszenierten. „Adil und Bilall haben es schon besonders weit gebracht und wir bewundern sie“, reagiert Karibekov auf den Vergleich. Nti stimmt ihm zu: „Jeder Vergleich mit ihnen ist ein Kompliment, auch wenn wir nicht die gleiche Art von Filmen machen.“[2]

Wie lassen sich der Stil und die Erzählweise dieser jungen Filmemacher kennzeichnen? Es folgt eine thematisch-narrative Analyse von “Boi”, “Da Yie” und “De Shaq” vor dem Hintergrund einer interkulturellen Entwicklung in der flämischen Kinolandschaft.

I. Diskurswechsel in der Kinolandschaft: Von der flämischen Nation zur interkulturellen Realität

Nti und Karibekov trafen sich erstmals am Royal Institute for Theatre, Cinema and Sound (RITCS) in Brüssel, wo sie Directing und Writing studierten. Neben ihrer Leidenschaft fürs Kino teilen sie ebenfalls ihren Migrationshintergrund. Beide verbrachten ihre Kindheit außerhalb von Flandern: Nti ist zum Teil in Ghana aufgewachsen, Karibekov in Kasachstan.

Somit schließt sich ihr Werk einer erst seit 20 Jahren spürbaren Tendenz zur Interkulturalisierung im flämischen Filmbereich an. Auch wenn die geschichtliche Entwicklung der imperialen Kolonisation in Belgien bis ins späte 19. Jahrhundert und das anschließende Erbe der postkolonialen Migration bis in die frühen sechziger Jahre zurückreichen[3], lag der filmische Schwerpunkt zwischen 1964 und 2002 eindeutig auf der Gestaltung von flämischer Identität[4]. Diese Betonung entstand aus einem Ideal der Nationenbildung, die sich allmählich zu einer marktorientierten Vision entwickelte. Trotzdem blieb das letztendliche Ziel einer nationalen Identität vier Jahrzehnte dasselbe.

Seit Anfang des 21. Jahrhunderts setzt sich die Tendenz zu Interkulturalisierung immer stärker durch. Die Kommunikationswissenschaftler Willems und Smets argumentieren, dass sich innerhalb dieser Tendenz zwei Kategorien identifizieren lassen. Auf der einen Seite drehen immer öfter Filmemacher mit Migrations- oder Diasporahintergrund Filme zu interkulturellen Themen auf flämischem Boden (z.B. “Turquaze” und “Marry Me”). Andererseits erscheinen nach und nach von Flandern subventionierte Filme, die den lokalen Bezugsrahmen übersteigen. Ihre Verfasser entfliehen sozusagen dem flämischen Kirchturm, um ausdrücklich andere Kulturen zum Thema ihrer Produktionen zu machen (z.B. “Altiplano” und “Blue Bird”).[5]

Laut Kinoforscher*in Massimi unterstreicht die Aufteilung von Willems und Smets die Art, wie interkulturelle Dynamiken eingreifen, um Flanderns Suche nach nationaler Identität als homogenes und eindeutiges Konstrukt zu erschweren: Entweder minimieren diese Filme die Verbindung zu Flandern oder sie überbrücken die Kluft zwischen Heimat und Gastland. Massimi weist zudem auf eine dritte interkulturelle Kategorie von Filmen, und zwar diejenigen, die in Flandern von weißen flämischen Regisseuren und mit flämischer Finanzierung produziert werden (z.B. “The Invader” und “Mixed Kebab”).[6]

II. “Boi”: (Bulgarische) Bruderschaft am (Genter) Seehafen

Nti und Karibekov schließen sich mit ihrem ersten Kurzfilm der jungen Tradition von Regisseuren mit Migrations- oder Diasporahintergrund an, deren Filme sich thematisch mit Interkulturalität auseinandersetzen. Das ergibt sich schon aus der Begründung, mit der Boi 2016 den Preis für den besten Studentenfilm auf dem Film Fest Gent erhielt: „‘Boi’ ist ein Film, der die Beziehung zwischen zwei Brüdern nutzt, um eine faszinierende Aussage über europäische Migranten in Belgien zu treffen.”[7] Die Experten lobten ebenfalls ihren Stil: „Der Humor, die Kamera, die den Figuren unter die Haut geht, und die natürliche Regie der Schauspieler waren Elemente, die die Jury als besonders stark empfand.“[8] Zu diesem Schluss kamen wohl auch die Zuschauer, denn das Duo gewann ebenfalls den Publikumspreis. Im selben Jahr wurde “Boi” auf dem gattungsspezifischen Kortfilmfestival Leuven sowohl mit dem Pressepreis als auch dem Preis für das beste Debüt gekrönt.

Tatsächlich folgt “Boi” nahezu klaustrophobisch dem Weg der bulgarischen Brüder Luka und Boiko, die die Schule schwänzen, um den Pick-up ihres Onkels mit geraubtem Metall zu beladen. Somit scheinen sie auf den ersten Blick stereotypische Vorstellungen über osteuropäische Migration zu bestätigen. Bis zum jeweiligen nächsten Halt bleiben die Brüder in der Pritsche sitzen, während der Seehafen hinter ihnen vorbeizieht. Diese Art von Mobilitätssinn und örtlicher Abgrenzung (oder Ausdehnung) werden von Willems und Smets als typische Merkmale für interkulturelle Filme betrachtet.[9] Dass die raue Umgebung gerade zum Genter Seehafen gehört, bleibt bis auf wenige Details undeutlich. „Das war auch meine Absicht“, kommentiert Nti. „Ich wollte, dass die Zuschauer das Gefühl haben, es könnte überall stattfinden. Die emotionale Reise der Charaktere war mir am wichtigsten.“[10]

Auf ihrer Reise lachen die Brüder, ärgern sich etwas, quatschen auf Bulgarisch und spielen  Musik auf Metallkochtöpfen. Als Boiko – der Jüngste – eine Klassenkameradin trifft, wird diese vertraute Stimmung aber gefährdet. Nachdem er seinen Bruder mit dem farbigen Mädchen über einen Schulausflug reden hört und, genauso wie die Brüder es traditionsgemäß machen, eine Münze werfen sieht, konfrontiert Luka Boiko mit seiner mutmaßlichen Verliebtheit. Weil er das Mädchen beleidigt, indem er sie aufgrund ihrer Locken mit einem Pudel vergleicht, verteidigt Boiko sie. Daraufhin entbricht ein Kampf, gefolgt von einer eisigen Stille in der Pritsche. Im einzigen Augenblick, in dem noch eine Interaktion zwischen den Brüdern stattfindet, weist Luka Boiko daraufhin, dass die Sonne ‘hier’ – im Vergleich zu Bulgarien – zu hell scheine. Boiko widerspricht, dass die Luft ‘hier’ aber besser sei und er deswegen besser atmen könne. Auf diese Art und Weise entsteht auch auf interkultureller Ebene eine Spannung zwischen beiden, die sich gegen Ende des Tages und damit auch des Filmes wieder auflöst.

[Abb. 2: “Boi” (© Esmoreit Lutters)]

Der oben genannte Klimavergleich ist der einzige explizite Hinweis auf Unterschiede zwischen dem Gast- und Heimatland der Hauptfiguren in “Boi” und ist dermaßen unspezifisch, dass es sich genauso gut um zwei andere Orte handeln könnte. Dadurch, dass Luka Boikos Klassenkameradin gerade aufgrund ihrer Locken kränkt, werfen Nti und Karibekov vielmehr die Idee auf, dass interkulturelle Spannungen weit über die binäre Spaltung zwischen Gast- und Heimatland hinausgehen. In diesem Zusammenhang erinnert “Boi” leicht an den von El Arbi und Fallah inszenierten Film “Black”, der von einer verbotenen Liebe zwischen einem schwarzen Mädchen und einem marokkanischen Jungen handelt, die Mitglieder rivalisierender Banden in Brüssel sind. In “Boi” beschränkt sich diese Spannung aber auf eine einzelne Beleidigung, die Luka in erster Linie aus Eifersucht äußert.

Demzufolge erzählt der Kurzfilm hauptsächlich eine mikroskopische Geschichte über ein universelles Thema: die komplexe und wechselnde Beziehung zwischen Geschwistern. Indem dieses Thema kulturelle Grenzen überschreitet, schaffen es Nti und Karibekov auf eine subtile Art und Weise, das Gemeinsame von ethnischen Gruppen statt ihrer Unterschiede hervorzuheben und damit möglicherweise ein Gegengewicht zu stereotypischem Denken über europäische Migrationsgruppen zu liefern.

III. “Da Yie”: Universelle Machtverhältnisse in Ghana

Im Gegensatz zu “Boi”, mit dem die zwei Filmemacher eine ihnen kaum bekannte Kultur – die bulgarische – kennenlernten, richten sie die Kamera in “Da Yie” (2019) auf Ntis Heimat Ghana, wo er die ersten zehn Jahre seines Lebens verbrachte. Wegen der schwierigen Produktionsumstände vor Ort, hat das Duo den Kurzfilm aus eigener Kraft entwickelt und gedreht. „Am Ende haben Chingiz und ich das Geld selbst zusammengekratzt“, erklärt Nti. „Er als Kurier für Uber Eats, ich für Pizza Hut.“[11] Umso bemerkenswerter ist es, dass sie nach der Filmveröffentlichung (inter)national im Rampenlicht standen. “Da Yie” war nicht nur einen Schritt von einer Oscar-Nominierung entfernt, sondern erhielt auch den Grand Prix auf dem Filmfestival von Clermont-Ferrand – dem größten Kurzfilmfestival der Welt – und eroberte einen Platz im Finale der BAFTA Student Film Awards. In Flandern gewannen Nti und Karibekov mit “Da Yie” den Publikumspreis auf dem Film Fest Gent, den Preis für den besten flämischen Kurzfilm auf dem Kortfestival Leuven und den Filmpreis Ensor für talentierte junge Filmemacher.

Genauso wie “Boi” ist “Da Yie” eine zeitbeschränkte Erzählung, die sich in der Zeitspanne nur eines Tages entfaltet. In der sonnigen Anfangsszene versucht eine Gruppe Kinder auf Anweisung eines Erwachsenen, freigelassene Hühner zu fangen. Wer gewinnt, darf die Mitglieder seiner Fußballmannschaft auswählen. Keiner der Kapitäne, darunter Matilda, will das mollige Kind mit der Brille, das als letztes übrig bleibt, in seine Gruppe aufnehmen. Die lebenslustige Matilda ruft deshalb ihren zurückhaltenden Freund Prince an und überzeugt ihn, ohne die Erlaubnis seiner Mutter ihr Team zu verstärken. Der thematische Schwerpunkt des Filmes wird somit deutlich: “Da Yie” hat die Absicht, die Unausweichlichkeit von sozialem Druck und Machtverhältnissen zum Ausdruck zu bringen.

Gleichzeitig macht “Da Yie” den Zuschauer auf die gesellschaftliche Realität innerhalb der ghanaischen Nation aufmerksam. Matilda und – unter ihrem Einfluss – Prince lassen sich abends von „dem Fremden“, wie die Kinder im Dorf Bogah nennen, ins Auto locken. Er hat ihnen ein Buffet versprochen. Ihr Einverständnis markiert den Beginn eines Roadtrips, der u. a. die ethnolinguistischen und religiösen Unterschiede zwischen Prince und Matilde einerseits und Bogah andererseits aufdeckt. Sobald Bogah ins Spiel kommt, wechseln die jungen Hauptfiguren von ashanti (eine Variante von twi) zu englisch. Er beherrscht ihre einheimische Sprache nicht, aber – wie er es Matilda erklärt – viele andere. Im Laufe der Geschichte hören wir ihn beispielsweise französisch mit seinem Auftraggeber reden. Als Prince während des Buffets ein Gebet spricht, Matilde lachend ein Kreuzzeichen macht und Bogah ungerührt bleibt, wird ebenfalls deutlich, dass er einer anderen oder keiner Religion angehört. Es ist diese Art von Hybridität, in der unterschiedliche Sprachen und kulturelle Symbole koexistieren, die der Diasporaoptik zugeordnet ist und dementsprechend als Merkmal interkultureller Filme gilt.[12]

[Abb. 3: “Da Yie” (via De Ensors VZW)]

Trotz dieser kulturellen Unterschiede, die sich in ästhetischen Einzelheiten zeigen, trauen die Kinder Bogah nach jedem Halt auf dem Roadtrip offensichtlich mehr. Währenddessen wächst sein Schuldgefühl. Gegen Abend, als seine Bande ihn anruft und erwartet, versucht er sich – ohne Erfolg – dem Plan entgegenzusetzen. Einmal angekommen läuft die Geschichte auf ein tragisches Ende zu. Sobald der Auftraggeber bemerkt, dass Prince schon die ganze Zeit am Filmen ist, bricht ein Kampf zwischen Bogah und seinen Gangmitgliedern aus, während Prince und Matilde weglaufen. Keine der drei Figuren hat es geschafft, dem sozialen Druck ihrer Umgebung rechtzeitig zu entkommen.

Auf diese Art und Weise wird auch “Da Yie” zu einer mikroskopischen Erzählung, die ein kulturunabhängiges Thema, und zwar soziale Machtstrukturen, fokussiert: zwischen populären und schikanierten Kindern, frivolen und reservierten jungen Freunden, gutgläubigen Kindern und kriminellen Erwachsenen, niederen Auftragnehmern und autoritären Auftraggebern. Das Verhältnis zwischen einheimischen und ausländischen Bürgern wird jedoch nur in geringem Maße angesprochen. Ungeachtet ihrer sprachlichen und ideologischen Unterschiede, machen Prince, Matilda und Bogah in Bezug auf sozialen Druck eine ähnliche Erfahrung im Film. Indem Nti und Karibekov mit “Da Yie” den flämischen Ort und Referenzrahmen hinter sich lassen, betonen sie außerdem auf höherer Ebene Ähnlichkeiten zwischen Kulturen: Migration und ethnische Diversität sind nicht nur der europäischen, sondern jeder Gesellschaft und damit dem menschlichen Leben eigen.

IV. “De Shaq”: Humorvolles Spiel mit flämischen Stereotypen

“De Shaq” (2020), das jüngste gemeinsame Projekt von Anthony Nti und Chingiz Karibekov, entstand in der Zeit nach der Black Lives Matter-Bewegung, die die humoristische Krimiserie wesentlich geprägt hat. Laut Soe Nsuki, mit der das Duo “De Shaq” gemeinsam verfasst hat, ist die Tatsache, dass der flämische öffentlich-rechtliche Rundfunk VRT zum ersten Mal einen schwarzen Protagonisten in einer seiner Fernsehserien aufführt, sogar ein Black Lives Matter-Effekt. Als B-Girl, DJ und Komödiantin kongolesischer Herkunft beschreibt Nsuki “De Shaq” als ihre Rettung nach den Ereignissen, denn sie konnte beim Kreationsprozess und in ihrer Rolle von Olive ihre eigenen Erfahrungen zum Ausdruck bringen.[13] Die vierte Macherin der Miniserie ist Regisseurin und Schriftstellerin Inès Eshun, die ihre Wurzeln in Belgien, Estland und Ghana hat.

In vier Episoden erzählt die vierköpfige Gruppe die Geschichte eines weißen Flamen, Marnix, der seinen schwarzen Business Partner Shaq unter dem Deckmantel einer dringenden Trainingsstunde in seine Villa lockt. Shaq fällt leicht darauf ein, denn er arbeitet als Personal Trainer in ihrem gemeinsamen, illegitimen Geschäft EcoFit, an dem auch Sasha beteiligt ist. Es stellt sich heraus, dass Marnix in einen Mordfall verwickelt ist, und zwar an ihrem gemeinsamen Kollegen Sasha.

[Abb. 4: “De Shaq” (© Eén)]

Das Ganze wird zu einem humorvollen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Marnix und Shaq. Marnix manipuliert Shaq, damit er die Schuld des vermeintlichen Unfalls an ihn weiterreichen kann. Als Shaq ihm die Hilfe verweigert und die Polizei verständigt, wird Ethnic Profiling ein sichtbares Thema. Wen würde die Polizei des Mordes verdächtigen, falls Marnix sie im selben Moment informieren würde? Zudem befindet sich Shaqs Kapital integral in Marnix’ Tresor, während er gerade ein Haus mit seiner Freundin Olive kaufen will. Erst, nachdem Shaq die Videobilder des Mordes auf einem Spielzeugroboter entdeckt, spielt er mit. Wie Marnix ihm aufgetragen hat, führt er – erfundene – Telefongespräche mit „ein paar Männern“, die die Leiche im Austausch für nahezu das ganze Geld aus dem Tresor wegschaffen können. Um dies glaubhaft zu machen, eignet sich Shaq zuerst heimlich das Gangsterverhalten und englische Slang-Wörter an.

Auf diese komische Art und Weise widerlegt “De Shaq” nicht nur Vorurteile, die Ethnic Profiling unterliegen, sondern flippt die Serie sogar stereotypische Denkmuster: Sie stellt den Flamen Marnix als Kriminellen dar, während das Verhalten Shaqs und seiner Freundin Olive dem bürgerlichen flämischen Lebensstil entspricht. Sie möchten nur Vater-Mutter-Kind in einem flämischen Häuschen spielen und immer meditieren, wenn etwas schiefläuft. Shaq war beim katholischen Jugendverein, wo er Marnix kennengelernt hat, und Olive geht am liebsten in einer Frittenhütte essen. Trotzdem tritt Olive manchmal als kritische Stimme im Kurzfilm auf. Sie beschimpft den Immobilienmakler, der ihren Nachnamen nicht richtig buchstabieren kann (oder will), und die Nachbarin von Marnix, wann sie ihre Sprachkenntnisse komplimentiert. Offenbar ging sie davon aus, dass Olive Putzfrau war und entweder nur Englisch oder Französisch sprach.

[Abb. 5: “De Shaq” (© Eén)]

Am Ende der Geschichte und des einzigen Tages, an dem sich der Plot entwickelt, kaufen sich Olive und Shaq ein Haus, während Marnix die Polizei anruft und gesteht. “De Shaq” hat die stereotypische Rollenverteilung in der interkulturellen Realität umgedreht, ohne den Humor zu verlieren. Nti betont diese Entscheidung: „Wir wollten vor allem ein komisches Mordgeheimnis schaffen, kein Pamphlet.”[14] Folglich schließt sich “De Shaq” nicht nur der Reihe von Produktionen von Filmemachern mit Migrations- oder Diasporahintergrund an, die die interkulturelle Realität Flanderns anprangern. Wegen des humoristischen Stils machen Nit und Karibekov in Zusammenarbeit mit Nsuki und Eshun genau das, was in der Zeit von Hugo Claus und Frans Buyens, die sich in ihren Filmen “De Leeuw van Vlaanderen” und “Top Hit Girl” der Beziehung zwischen Flandern und Wallonien zuwenden wollten[15], undenkbar war: die interkulturellen Gemeinschaftsprobleme Flanderns oder Belgiens satirisieren.

V. Mikro-Erzählung versus Makro-Thematik: Der Anfang eines neuen interkulturellen Filmstils?

Tatsächlich setzt das bisherige Gesamtwerk von Anthony Nti und Chingiz Karibekov die junge interkulturelle Entwicklung im flämischen Kinolandschaft fort. Während sie in “Da Yie” ihre Verbindung zu Flandern minimieren, überbrücken sie in “Boi” und “De Shaq” die Kluft zwischen Heimat und Gastland. Obwohl diese drei Produktionen ebenfalls typische Merkmale interkultureller Filme aufweisen, lassen sie sich hauptsächlich durch ein inhärentes Mikro-Makro-Verhältnis kennzeichnen. Als kleine Krimigeschichten zu zutiefst menschlichen Themen decken sie vielmehr Ähnlichkeiten als Unterschiede zwischen verschiedenen ethnisch-kulturellen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft auf. “De Shaq” hebt dies dadurch hervor, dass die Serie stereotypische Denkmuster umdreht und dementsprechend satirisiert. Nti bekräftigt seine leichtfertige Erzählweise: „Ich bin kein Prediger, das überlasse ich lieber meinem Vater. Ich möchte unterhaltsame Filme und Serien machen, wenn auch mit einer unterschwelligen, subtilen Botschaft.”[16]

Nti und Karibekov schreiben derzeit das Drehbuch ihres ersten Spielfilms und ihrer zweiten Serie. Über die Serie “Clemenceau” ist außer ihrer Zusammenarbeit mit Mohamed El Hajjout[17] bisher wenig bekannt. Über “Postcard” ist sicher, dass der Film eine Adaption von “Fata Morgana” werden wird, einem Roman über Menschenhandel und Prostitution, der von der belgisch-nigerianischen Schriftstellerin Chika Unigwe geschrieben wurde.[18] Somit revitalisiert das Duo – genauso wie El Arbi und Fallal in “Black” – eine ältere flämische Filmtradition: In dem ersten Jahrzehnt des flämischen Filmfördersystems waren die Hälfte der Produktionen (14 von 28) Literaturverfilmungen. Auf diese Weise konnte sich die Kommission auf die bereits erprobten erzählerischen Qualitäten und den Erfolg der Romane verlassen.[19] Werden Nti und Karibekov in ihren neuen Produktionen dem Stil, den sie in “Boi”, “Da Yie” und “De Shaq” etabliert haben, treu bleiben?

VI. Anmerkungen

[1] SOKOL, “Belg Anthony Nti”.

[2] SOKOL, “Belg Anthony Nti”.

[3] MASSIMI, “Polyphonic Bodies”, S. 15.

[4] WILLEMS, “Filmbeleid en natievorming”, S. 9.

[5] WILLEMS/SMETS, “Film Policy”, S. 95.

[6] MASSIMI, “Polyphonic Bodies”, S. 17.

[7] “‘Boi’ van Anthony Nti is beste studentenkortfilm”.

[8] “‘Boi’ van Anthony Nti is beste studentenkortfilm”.

[9] WILLEMS/SMETS, “Film Policy”, S. 98.

[10] “Anthony Nti over ‘Boi’”.

[11] DALLE, “Anthony Nti”.

[12] WILLEMS/SMETS, “Film Policy”, S. 97-98.

[13] LEEMANS/BEUCKELAERE, “Back to Black Lives Matter”.

[14] DALLE, “Anthony Nti”.

[15] WILLEMS, “The Suppression”.

[16] DALLE, “Anthony Nti”.

[17] DALLE, “Anthony Nti”.

[18] SOKOL, “Belg Anthony Nti”.

[19] WILLEMS, “The Suppression”.

 

Quellenverzeichnis

-“Anthony Nti over ‘Boi’”, in: Cinevox, veröffentlicht am 28.11.2016. https://www.cinevox.be/nl/ikl-anthony-nti-over-boi/

-“‘Boi’ van Anthony Nti is beste studentenkortfilm op Film Fest Gent”, in: Knack Focus, veröffentlicht am 22.10.16. https://focus.knack.be/entertainment/film/boi-van-anthony-nti-is-beste-studentenkortfilm-op-film-fest-gent/article-normal-767975.html

-DALLE, Kristof, “Anthony Nti introduceert het eerste zwarte hoofdpersonage in een VRT-fictiereeks”, in: Knack Focus, veröffentlicht am 20.01.2021. https://focus.knack.be/entertainment/tv-radio/anthony-nti-introduceert-het-eerste-zwarte-hoofdpersonage-in-een-vrt-fictiereeks/article-longread-1689521.html

-LEEMANS, Jorik und BEUCKELAERE, Heleen De, “Back to Black Lives Matter. ‘Een hashtag plaatsen is niet genoeg’”, in: Knack Weekend, veröffentlicht am 15.12.2020. https://weekend.knack.be/lifestyle/maatschappij/back-to-black-lives-matter-een-hashtag-posten-is-niet-genoeg/article-longread-1676065.html

-MASSIMI, Fulvia, “Polyphonic Bodies, Accented Voices. Diasporic and Migrant Identities in Current Flemish Cinema”, in: Trespassing Journal. An Online Journal of Art, Science, and Philosophy, Trespassing Borders 7, 2018, S. 12-31. http://trespassingjournal.org/?page_id=1091

-SOKOL, Kirsten, “Belg Anthony Nti haalt geen Oscarnominatie binnen voor zijn kortfilm ‘Da Yie’”, in: VRT NWS, veröffentlicht am 15.03.2021. https://www.vrt.be/vrtnws/nl/2021/03/06/portret-anthony-nti/

-WILLEMS, Gertjan, und Kevin Smets, “Film Policy and the Emergence of the Cross-cultural: Exploring Crossover Cinema in Flanders (Belgium)”, in: Crossover Cinema. Cross-cultural Film from Production to Reception, Band 25, 2013, S. 94-104.

-WILLEMS, Gertjan, “The Suppression of Satirizing Belgian Community Difficulties in Flemish Cinema and the Film Adaptation of ‘Will-O’-the Wisp’”, in: CLCWEB-COMPARATIVE LITERATURE AND CULTURE, Band 19.4, 2017.

-WILLEMS, Gertjan, “Filmbeleid en natievorming in Vlaanderen”, in: VAKTAAL, Band 31.1, 2018, S. 8-9.