Stromae: Musiktext- und Videoclipanalysen ausgewählter Werke

Der belgische Sänger Stromae zeichnet sich besonders durch seine vielfältigen und individuellen Werke aus. Jeder Musiktext enthält einen ernsten Hintergrund, obwohl viele Hörer*innen dies zunächst nicht von ihm erwarten. Besonders in seinen Musikvideos stellt Stromae eine Kunstfigur dar, da jeder Clip einzigartig und ausdrucksstark ist.

Im Folgenden werden die Lieder „Quand c’est“, „Formidable“ und „Alors on danse“ im Hinblick auf die Musiktexte und -videos analysiert. Das Ziel dieser Analyse besteht darin, die individuellen Werke mit ihren Bedeutungen vorzustellen und Stromae als Kunstfigur zu präsentieren.

Inhaltsverzeichnis

Als erstes wird das Lied „Quand c’est“ analysiert, weil man die Hypothese aufstellen könnte, dass sich ein persönlicher Hintergrund hinter dem Song verbirgt.

Stromae: Quand c’est (© Samira Dawlatow)

Der Popsong des belgischen Künstlers Stromae mit dem Titel „Quand c’est“, welcher 2013 im Album „Racine carrée“ erschien, handelt von der Angst vor der – aus Sicht des Sängers – allgegenwärtigen Krebserkrankung. Bereits in der ersten Strophe offenbart der Künstler seinen persönlichen Bezug zu der Thematik. Mit den Zeilen „T'as même voulu te faire ma mère hun“ und „Et puis du poumon à mon père“ (Stromae, 2013) verrät er, dass beide seiner Eltern an Krebs erkrankt sind. Im Anschluss daran folgt der Refrain, in dem es um die Fragen geht, wann und wen die Krankheit als nächstes treffen werde. Diese Krankheit wird in der zweiten Strophe mit den Worten „rien ne t’ârrete toi“ (Stromae, 2013) als unaufhaltsam beschrieben. Zudem wird die Aussage, dass der Krebs jeden treffen könne, deutlich.

In den paroles gibt es einige sprachliche Auffälligkeiten. Bereits der Titel „Quand c’est“ hat einen ähnlichen Klang wie das Wort „cancer“, wodurch ein Wortspiel vorliegt. Die Hörerschaft könnte dadurch den Eindruck erhalten, nahezu ständig dasselbe Wort zu hören. Dadurch wird die Thematik schnell deutlich, ohne dass die Hörer*innen über den Inhalt tiefgründig nachdenken müssen. Möglicherweise ist das Stromaes Intention, da er 2014 in einem Interview zu seinem Hit „Alors on danse“ von 2010 folgendes äußerte: „Sie hören zu und tanzen, obwohl sie den Text nicht verstehen“ (Bopp, 2014). Mit dem Text von „Quand c’est“ scheint der belgische Sänger nun auf eine simple und doch ernste Art die Hörerschaft sensibilisieren zu wollen. Diesbezüglich fällt auf, dass er nicht sehr viele Worte nutzt. Zudem weist der Songtext viele Wiederholungen auf. Besonders im Refrain sind in jeder Zeile die Anaphern „Cancer cancer“ (Stromae, 2013), vorhanden. Diese verstärken das Wortspiel und sorgen dafür, dass sich der Begriff „cancer“ und somit die Thematik des Liedes bei der Hörerschaft einprägen. Des Weiteren wird der Krebs in Stromaes Song personifiziert. Durch zahlreiche direkte Ansprachen und rhetorische Fragen, wie „Cancer, cancer, dis-moi quand c’est?“ und „Que tu pars en vacances?“ (Stromae, 2013) wird die Krankheit wie ein Mensch dargestellt. Allerdings geschieht dies auf eine negative und abwertende Art und Weise, wie man es dem Zitat „Stromae s’adresse au cancer comme s’il était un être humain criminel“ (GreatSong) entnehmen kann. Die Aussage „Et tu aimes les petits enfants“ (Stromae, 2013) impliziert, dass der Krebs selbst unschuldige und schutzbedürftige Kinder treffen könne, welches seine abwertende Haltung der Krankheit gegenüber verdeutlicht. Zudem erscheint der Krebs durch diese Aussage schon fast pädophil, welches die Hörerschaft ebenfalls dazu veranlasst, die Krankheit herabwürdigend zu betrachten. Die insgesamt triste und ernste Atmosphäre wird durch Stromaes offensichtliche Angst vor der Krankheit untermauert. Es scheint, als würde „die Allgegenwärtigkeit der Furcht vor der Krebserkrankung [sein] Leben bestimm[en] (Mertin, 2016, S. 7). Auf diese Weise wirkt das Lied jedoch authentisch, ehrlich und sensibilisierend.

Nun geht es um das Musikvideo zum Song „Quand c’est“. Im schwarz-weißen Videoclip sieht man zunächst eine Nahaufnahme (plan rapproché) des Sängers, der als schwarze Silhouette dargestellt wird. Während die Bildeinstellung langsam zum plan moyen wechselt, steht er alleine auf einer leeren Bühne eines Theatersaals und fängt an, seine Finger wie Spinnenbeine zu bewegen (00:00-00:30). Sobald der Refrain – mit den Worten „cancer cancer“ – einsetzt, sieht man die Silhouette eines spinnenähnlichen Wesens auf der Bühne, welche vermutlich den Krebs darstellen soll. Gleichwohl haben die Zuschauer*innen einen gewissen Interpretationsfreiraum. Die Spinnenbeine könnten auch als knochige Arme eines Baumes, die nach der Silhouette greifen, interpretiert werden. Dies erinnert an einen undurchdringlichen und schaurigen Wald, aus dem man nicht entkommen kann. Ähnlich wie bei der Krebserkrankung, die häufig ausweglos ist. Beide Interpretationen stellen jedoch gleichsam Schreckensbilder dar, was dazu führen kann, dass die Zuschauer*innen von Stromaes Furcht „angesteckt“ werden.

Solange Stromae ausdrucksvoll auf der Theaterbühne tanzt, schwenkt die Kamera mit (00:30-00:50). Daraufhin verändert sich die Bildeinstellung zum plan d’ensemble (00:50-01:00), wobei man nur Stromaes Silhouette sieht, die erneut „die Erkrankungen seiner Verwandten imaginiert und gestisch mit seinen Händen umsetzt“ (Mertin, 2016, S. 7). Im Anschluss öffnet sich der Blick in den Zuschauerraum, der voller „Wuchungen und Zellbildungen“ (Mertin, 2016, S. 7) ist (01:00-01:25). Erneut liegt der Fokus auf dem Tanz des Sängers, wobei sich die Kamera immer weiter vom plan moyen zum plan d’ensemble entfernt. Nun fängt Stromaes Silhouette an, mit dem Krebs, der ihn attackiert, zu kämpfen. Der Sänger fällt zu Boden und „analog zu mittelalterlichen christlichen Vorstellungen ‚holt‘ der Krebs so etwas wie eine Seele […] aus dem Leib des Verstorbenen und befördert sie in eine höhere Sphäre“ (Mertin, 2016, S. 7). Hierbei fängt das Licht auf der Bühne an zu flackern und die Silhouette des Sängers erscheint nun in weiß (01:25-02:10). An dieser Stelle wechselt die Perspektive zur contre-plongée. Somit verfolgt die Kamera die „Beförderung in eine höhere Sphäre“ in einem dynamischen Tempo von unten nach oben. Dadurch bekommt man den Eindruck, dass man als Zuschauer*in mitten im Geschehen ist. Dabei sieht man zahlreiche weiße Silhouetten, die in den dunklen spinnenartigen Beinen verfangen sind. In diesem Moment wiederholt sich im Text die rhetorische Frage „qui est le prochain“ häufig (02:10-02:29). Bleibt man allerdings bei der Interpretation mit dem schaurigen Wald, so wäre es möglich, dass die Silhouetten in den Baumästen verfangen sind. Auf diese Weise ernährt sich der Krebs von den menschlichen Seelen, die der Krankheit nicht entkommen können. Im Verlauf passiert die Kamera ein weiteres Wesen, dessen Auge man lediglich sieht (02:29). Diese Besonderheit führt zu einem Verfremdungseffekt. Hiernach wechselt erneut die Kameraperspektive zum vol d’oiseau, wodurch das Geschehen nun von oben nach unten betrachtet wird (02:30-02:46). Für einige Sekunden sieht man Stromaes weiße Silhouette inmitten eines schwarzen Bildschirms. Daraufhin erscheint die Bühne wieder aus der Perspektive des plan d’ensemble. Die Silhouette hat nun wieder eine schwarze Farbe angenommen und liegt allein und bewusstlos auf der Bühne des leeren Theatersaals. Die Schreckensbilder sind verschwunden. An dieser Stelle könnte man interpretieren, dass auch der Krebs nicht mit dem bloßen Auge zu erkennen ist, allerdings Stromae mit (unsichtbarer) Angst erfüllt, und den Menschen – im schlimmsten Fall – töten kann.

Mit Blick auf den Videoclip und den Text lässt sich sagen, dass die Atmosphäre insgesamt stimmig ist, da beide Elemente eher düster und trist scheinen. Durch die Kameraperspektive hat man insgesamt den Eindruck, dass man das Geschehen gut mitverfolgen kann und der Fokus stets auf dem Wesentlichen liegt. Die Farblosigkeit im Video impliziert eine gewisse Leblosigkeit. Dies könnte eine Parallele zum Tod sein, den der Krebs oftmals zufolge hat. Der Sterbeprozess wird zudem durch die weißen Silhouetten verdeutlicht, die die Zuschauer*innen an Geister erinnern könnten. Vor dem Hintergrund macht Stromae die Menschen auf eine ehrliche, bewusstmachende und beängstigende Weise auf den Ernst und die Gefahr der Krebserkrankung aufmerksam.

Im Folgenden wird nun das Lied „Formidable“ analysiert, dessen ernster Songtext ebenfalls Probleme aufgreift, mit denen viele Menschen zu kämpfen haben. Im Kontrast zum vorherigen Lied steht der Videoclip. Dieser Clip offenbart eine andere künstlerische Facette von Stromae.

Stromae: Formidable (© Luana Marquardt)

Das Lied aus dem Album „Racine carrée“ wurde am 01. Juni. 2013 in Belgien veröffentlicht und ist nach „Alors on danse“ Stromaes erfolgreichste Single. Stromae verarbeitet in seiner Single „Formidable“ Themen wie große Selbstzweifel und Liebeskummer. Zudem zeigt er auf, wie mit diesen in einer Gesellschaft voller großer Erwartungshaltungen umgegangen wird. Besonders künstlerisch ist auch das Musikvideo, da es sich hierbei um Aufnahmen einer versteckten Kamera handelt.

Dem Refrain kann man entnehmen, dass es sich bei dem lyrischen Ich um einen Mann handelt, der vor Kurzem verlassen wurde. Dieser ist sehr verzweifelt über seine Situation, da die Trennung plötzlich kam und davor alles perfekt schien: „Nous étions formidables“ (Stromae, 2013). Darüber hinaus werden im Refrain durch das Wortspiel „Tu étais formidable, j'étais fort minable“ (Stromae, 2013) auch Selbstzweifel verdeutlicht. In der ersten Strophe spricht das lyrische Ich eine fremde Frau auf der Straße an, um ihr von seinem Leid zu berichten. Doch scheinbar möchte diese ihm nicht zuhören, was man an seiner Aussage: „Vous avez autre chose à faire hein“ (Stromae, 2013) erkennt. Die zweite Strophe ist an einen verheirateten Mann gerichtet. Dieser wird vor seiner bevorstehenden Scheidung gewarnt, denn das lyrische Ich scheint der Meinung zu sein, dass eine Trennung nicht verhindert werden kann. Somit stereotypisiert es alle Frauen, indem es sagt: „Elle va te larguer comme elles le font chaque fois“ (Stromae, 2013). Darüber hinaus spricht es auch den Seitensprung des Mannes an und bietet an, seiner Ehefrau davon zu berichten, um die unumgängliche Trennung zu vereinfachen. In der dritten Strophe, wird zunächst ein Kind angesprochen. Diesem erklärt das lyrische Ich, es gäbe im Leben kein Gut oder Böse „Tu sais dans la vie y'a ni méchant ni gentil“ (Stromae, 2013), denn die Menschen zeigten lediglich Reaktionen auf bestimmte Handlungen. Schließlich richtet sich das lyrische Ich an eine Menschenmenge, von denen es sich wie ein Affe beobachtet fühlt. Dadurch reagiert es gekränkt und beschimpft die Menschenmenge auf eine ironische und zugleich paradoxe Art als Heilige und auch als Affenbande „Bande de macaques!“ (Stromae, 2013).

Setzt man den Inhalt in Kontext zum Musikvideo, so erinnern einige Aufnahmen an die einer Handykamera. Folglich wirkt die Kameraführung mitunter amateurhaft. Stromae spielt das lyrische Ich seiner Single und irrt scheinbar betrunken durch die Straßen Brüssels. Vorwiegend hält er sich an der Tram-Haltestelle Louiza in Brüssel auf (vgl. Mertin, 2016), die durch den Videodreh bekannt geworden ist. Dabei singt, beziehungsweise spricht er undeutlich den Songtext vor sich hin. Setzt man diese szenische Darstellung in Verbindung zum Songtext, so lässt sich feststellen, dass Stromae in Dialog mit den Adressaten der Strophen tritt; wobei er teilweise auch eher monologisiert. Einem Interview des online Magazins „norient“ mit Stromaes Musikvideo-Regisseur Jérôme Guiot kann man entnehmen, dass der Dreh mit versteckter Kamera ein Art Test sein sollte: „We have two kinds of what we call experimental web contents“ (Liechti, 2018). Es gab folglich einige Kurzvideos auf Youtube, in denen Stromae erklärt, wie er seine Musik produziert. Diese heißen „Les leçons de Stromae“ (Liechti, 2018). Zudem gibt es ein weiteres Format: „ceci n’est pas un clip[1] (Liechti, 2018), in diesem singt Stromae lediglich vor der Kamera. Aus diesen Formaten resultierte anschließend eher zufällig das Musikvideo zur Single „Formidable“. Da es sich hierbei um eine Art Mischform handelt, wie Guiot erklärte, erhielt das Video den Untertitel „ceci n’est pas une leçon[2] (vgl. Liechti, 2018). Allgemein waren der Regisseur, wie auch Stomae, erstaunt über den großen Erfolg des Videos. Im Interview sagte Guiot außerdem über die Passanten im Video: „For sure people recognized Stromae. But instead of helping the drunken man, people filmed him and uploaded the clips on YouTube afterwards. That’s really awkward“ (Liechti, 2018). Diese Aussage hebt den Aspekt des Voyeurismus hervor. Stromae stellt sich zur Schau als Kunstfigur, doch die Passanten gehen nicht von einem „Darsteller“ aus. Sie sind im Glauben, diese Momentaufnahmen würden Stromae als Menschen und nicht als Künstler ausmachen. Durch sein Handeln bzw. Schauspiel lässt er zu, dass andere ihn online zur Schau stellen. Dies könnte man als Kritik an den gesellschaftlichen Normen sehen. Scheinbar ist nicht unüblich, die Schwäche eines Menschen auszunutzen, ihn zu filmen und online zur Schau zu stellen – möglicherweise für die eigene Selbsterhebung, oder lediglich zur Bespaßung der Online-Community. Eine fragwürdige Entwicklung unserer Zeit. Selbst einige Zeitschriften reagierten auf die „Fan-Clips“ mit Schlagzeilen wie „Stromae ivre dans la rue...“. Dabei hatten sich weder Stromae noch sein Regisseur dazu geäußert (vgl. Liechti, 2018). An diesem Beispiel kann man sehen, wie schnell sich Fake News verbreiten können. Eine amüsante Wendung für den*die Zuschauer*in nimmt das Musikvideo, als Stromae von zwei belgischen Polizisten angesprochen wird, die sich als Fans seiner Musik outen (03:00-03:24). Auch sie sind im Glauben, er sei betrunken, und bieten an, Stromae nach Hause zu fahren. Dem steht der Regisseur Guiot auch kritisch gegenüber (vgl. Liechti, 2018). Seiner Meinung nach baten diese ihre Hilfe nur an, weil Stromae berühmt ist (vgl. Liechti, 2018). Letztlich kann gesagt werden, dass dieser „versteckte“ Dreh einige authentische Reaktionen beteiligter Passant*innen in Brüssel einfangen konnte. Stromae selbst hat in einem Interview mit dem deutschen Spiegel-Magazin 2014 mit Maria Manzo erläutert, dass der Fokus bei diesem Werk nicht auf „einem betrunkenen Obdachlosen, der rumpöbelt“ liege, sondern vielmehr auf dem Gefühl der Einsamkeit, das wir alle kennen (vgl. Manzo, 2014). Stromae geht sogar so weit und bezeichnet die Einsamkeit als „größte Krankheit unserer Zeit“ (Stromae, 2014).

Aus heutiger Zeit betrachtet und vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, gewinnen diese Worte noch mehr an Bedeutung. Ein Großteil der Menschen kann nachempfinden, wie es ist, isoliert und einsam zu sein. Man ist froh, wenn man Familie und Freunde hat; doch was, wenn auch diese Stütze wegfällt? Urteilen wir vielleicht häufig zu schnell über Menschen, da unsere Gesellschaft auf einem Gerüst von Erwartungshaltungen gebaut ist? Auf dem ersten Blick schockierend: ein Betrunkener, der rumpöbelt… seine Probleme interessieren doch niemanden, er sollte sie für sich behalten. Aber sind seine Probleme nicht die von vielen? Vielleicht sollte man genauer hinhören, Verständnis zeigen und sich in einer Welt voller Zwänge loslösen und füreinander einstehen.

Zum Schluss folgt die Analyse von Stromaes erfolgreichster Single „Alors on danse“, um herauszufinden, was sich hinter dem globalen Hit verbirgt. Zahlreiche Menschen weltweit feierten zu diesem Song. Jedoch könnte der Schein trügen. Letzteres soll durch die folgende Analyse belegt werden. Bleibt Stromae – wie bei den ersten beiden Liedern – seiner Linie treu?

Stromae: Alors on danse (© Anna Ventker)

Der weltweit bekannte Hit „Alors on danse“ von dem belgischen Popstar Stromae wurde am 26. September 2009 als Single veröffentlicht. Im Jahr 2010 ging es als Teil des Albums „Cheese“ viral, ebenso wie das Musikvideo mit über 278 Millionen Clicks auf YouTube.

Sowohl der Songtext als auch das Video eröffnen einige Interpretationsmöglichkeiten und Spielräume der Analyse. In einem Interview zwischen einer Journalistin und dem Künstler wird der Song als „desillusioniert“ (Bopp, 2014) umschrieben. Des Weiteren fallen negativ konnotierte Wörter, wie z.B. Krise, Schulden, Armut und gescheiterte Beziehungen, auf. Hinterfragt werden die als positiv wahrgenommene Melodie und die Gründe, weshalb die Menschen dazu tanzen (vgl. Bopp, 2014). Die „Diskrepanz zwischen dem Text und dem Lied“ sowie sein Staunen über das internationale Tanzen dazu (vgl. Stromae, 2014), gesteht der Künstler ein. In seinem Songtext werden in den Strophen „travail, divorce, problèmes ne viennent pas seuls, crise, crédit“ (Stromae, 2009) thematisiert. Es entsteht eine Aneinanderreihung von Assoziationen von Lernen zur Arbeit, von Krediten zu Geldforderungen. Als Lösung wiederholt er in der fröhlichen, aber auch laut Stromae nostalgischen Melodie „Alors on danse“ – lasst uns tanzen“ (Stromae, 2009). Dies mag an und für sich in erster Linie Ausgelassenheit, gute Stimmung und Freiheit suggerieren – das Gegenteil des Inhalts der Strophen. Der Künstler singt davon, zu der Musik zu tanzen – die Probleme verschwinden dennoch nicht. Zu diesem Interpretationsansatz kann folgende Textzeile als Beleg angeführt werden „en ben [il] y en a encore“ (Stromae, 2009). Auch, wenn die Probleme weiterhin bestehen, kann nicht nur das Tanzen, sondern auch das Singen („alors on chante: lalalala“ (Stromae, 2009)) helfen, die Schwierigkeiten zumindest kurzfristig zu verdrängen – was allerdings nicht ohne Ironie im Songtext vorgeschlagen wird.

Besonders diese Bedeutung des Textes wird in dem dazugehörigen Musikvideo deutlich. In dem knapp vierminütigen Clip werden mit Hilfe von horizontalen Split-Screens unterschiedliche Perspektiven einer Situation gezeigt. Dabei kann der Alltag eines Angestellten im Büro, angefangen mit monotoner Arbeit am Arbeitsplatz (00:00-00:23), beobachtet werden. Im weiteren Verlauf des Videos wird an dem Gesicht von Stromae, als Protagonist, Müdigkeit und Überarbeitung offenkundig (00:33). Während er das Wort „divorce“ (Stromae, 2009) singt (00:46), besucht er ein Kind, dessen Vater er sein könnte. Mit der Assoziation einer Scheidung kann vermutet werden, dass die Frau, die ihn in der Szene wegstößt, seine Ex-Frau darstellt. Weitere negative Situationen bahnen sich an, als Stromae Obdachlosen begegnet (00:55). Hierbei wird das Thema Armut, wie auch im Text, aufgegriffen. Nachdem die erste Strophe nach einer Minute vergangen ist, betritt der Künstler eine Kneipe und der Refrain ertönt (01:04): „Alors on danse“ (Stromae, 2009) – dann beginnt er zu tanzen. Die Hoffnung auf das Vergehen der Probleme spiegelt sich in folgender Textzeile wider „Alors on sort (pour) oublier tous les problèmes…“ (Stromae, 2009). In dem Video versucht der Protagonist durch den Kneipenausflug die Probleme zu überdecken, doch während das Publikum fröhlich gestimmt ist und ausgelassen feiert (01:20-03:15), merkt man Stromae, der zu Boden fällt (03:17), an, dass diese Taktik nicht funktioniert. Denn gelöst werden die Probleme dadurch nicht. Nach einer langen Partynacht sieht man den Künstler erneut in seinem Büro, wobei sich der monotone Alltag wie in einer Schleife wiederholt (03:38-03:54). Durch die Kamerabewegungen auf das Gesicht und den Perspektivwechsel in den Split-Screens, wird der Zuschauer dazu eingeladen, die übermüdete und gestresste Gestik sowie Mimik des bürgerlich namenhaften Paul van Haver auf sich wirken zu lassen. Aus den Ausführungen und Interpretationsansätzen wird deutlich, dass Stromae zum Einen eine deutliche Diskrepanz zwischen der Melodie und dem Text erschaffen hat. Die Welt tanzt seit über zehn Jahren zu seinem Hit, trotz des negativen Inhalts. Durch unumgängliche Krisen im Alltag werden Depressionen verursacht. Dem gegenüber steht das Gefühl der Leichtigkeit in Partynächten. Außerdem kann angefügt werden, dass die Negativität des Textes in dem Musikvideo verdeutlicht, wird durch: die Monotonie der alltäglichen Probleme, die Umstände einer Scheidung, die Armut in der Stadt und die allgemein herrschende Unzufriedenheit.

Rückblickend auf die anfängliche Fragestellung lässt sich sagen, dass sich hinter dem Hit „Alors on danse“ traurige menschliche Schicksale befinden. Zudem lässt sich damit die Motivation der Feiernden verknüpfen, da sie für einen Moment – während der Feier – ihr trübseliges Schicksal vergessen wollen. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Lied als Meta-Partysong beschreiben.

Schlussendlich ist festzustellen, dass der belgische Sänger Stromae als Kunstfigur stets tiefgreifende Inhalte bzw. Probleme in seiner Musik aufgreift. Jeder Song und jedes Video sind jedoch einzigartig und künstlerisch.

– von Samira Dawlatow, Luana Marquardt und Anna Ventker –

Dieser studentische Text ist im Rahmen des Romanistik-Seminars "Das BelgienNet - medienpraktische Perspektiven auf die Kultur Belgiens" im Sommersemester 2021 entstanden. Weitere Artikel zu Stromae auf dem BelgienNet finden Sie hier: die Meldung zu Stromaes neuem Album, sowie im Kontext der belg*études-Unterrubrik die französische Fassung dieses Textes mit dem Titel "Stromae : analyse de chansons", einen deutschsprachigen Glossar-Artikel zu "Stromae als Kunstfigur"  und schließlich die französische Fassung des Glossar-Eintrags mit begleitender Audiodatei auf Französisch.

Anmerkungen:

[1] Dies ist womöglich eine Anspielung auf das bekannteste Werk „Ceci n'est pas une pipe“ des belgischen Künstlers René Magritte (Surrealist, *21.November.1898; †15.August.1967). Das Werk weist eine verbale und visuelle Mehrdeutigkeit auf. In Bezug, auf diesen Titel könnte man sich fragen, ob es ein Musikvideo ist oder nicht, wenn man nur vor der Kamera singt.

[2] In Bezug auf René Magritte könnte man sich hierbei das Gleiche fragen: Ist das Musikvideo des Songs „Formidable“ eine Lektion oder nicht?

 

Quellenverzeichnis

Bopp, L. (2014): Gespräch mit dem belgischen Sänger Stromae: Melancholie ist Traurigkeit mit Würde. Feuilleton-FAZ. In: Frankfurter Allgemeine. Zuletzt aufgerufen am 27.05.2021.

Liechti, H. (2018): Drunken in the Streets of Brussels. In: norient. Zuletzt aufgerufen am 05.06.2021.

Manzo, S. M. (2014): Flirten ist scheiße. In: Spiegelmagazin-Kultur. Zuletzt aufgerufen am 27.05.2021.

Mertin, A. (2016): Stromae – ein Meister der Ambiguitäten. In: Tà katoptrizómena. Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik. Heft 102. S. 2, 4, 7.

Musikvideos auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=VHoT4N43jK8. Zuletzt aufgerufen am 27.05.2021.

https://www.youtube.com/watch?v=8aJw4chksqM zuletzt aufgerufen am 24.05.2021.

https://www.youtube.com/watch?v=S_xH7noaqTA zuletzt aufgerufen am 27.05.2021.

Paroles de Quand c’est: https://greatsong.net/PAROLES-STROMAE,QUAND-CEST,1481928.html zuletzt aufgerufen am 24.05.2021.

Songmeanings and Facts :   „Alors on danse“ by Stromae - Song Meanings and Facts. Zuletzt aufgerufen am : 27.05.2021.

Songtexte von Stromae: https://genius.com/Stromae-quand-cest-lyrics zuletzt aufgerufen am 24.05.2021.

https://genius.com/Stromae-alors-on-danse-lyrics zuletzt aufgerufen am 24.05.2021.

https://genius.com/Stromae-formidable-lyrics zuletzt aufgerufen am 24.05.2021.