Zwischen flämischer und europäischer Identität: Paul van Ostaijens (1896-1928) Gedichtband „Besetzte Stadt“ (2024)
BOUM!
PAUKENSCHLAG!
Dann ist alles platt!
O__________________________o
Wieder Rasen Geigen, Celli, Bässe, Trompeten, Triangel
Trommeln PAUKEN [...][1]
Ist es ein Konzert, das Paul van Ostaijens lyrisches Werk „Besetzte Stadt“ wachruft? Oder erleben wir mit allen Sinnen eine deutsche Militärparade, die während des Ersten Weltkriegs, mit Pauken und Trompeten‘ in Antwerpen einmarschiert? Die Antwort scheint wie das gesamte poetische Werk nicht eindeutig zu sein: Einerseits werden die lautmalerischen Klänge in einen kulturellen und zivilen Kontext, nämlich einer Music Hall, verortet. Andererseits schwingt bei diesen scheinbar friedlichen Klängen immer etwas vom historischen Geschehen mit, sodass Kriegserleben als Alltag erfahrbar wird. Auf diese Weise schleicht der Geist der deutschen Besatzung Antwerpens im Ersten Weltkriegs wie ein Schatten durch dieses Kunstwerk typografischer und lautmalerischer Poesie: Dieser zerstörerische Geist ist es womöglich, der einen Sinn des Textes überlagert, verdunkelt, manchmal sogar regelrecht zersprengt und Wortfetzen über die Seiten verteilt. Nun, im Jahre 2024, ist dieses in den Niederlanden und Flandern längst kanonisierte Werk auch im Deutschen in der Übersetzung von Anna Eble erschienen. Demnach lohnt sich ein erneuter Blick auf dieses alle Sinne berührende Gesamtkunstwerk, das als Zeugnis von Kriegserfahrungen bis dato die Zeiten transzendiert: Wie genau liest sich „Besetzte Stadt“ als historisches Fundstück zeitgenössischer historischer und politischer Prozesse? Was sagt die darin dargestellte Verwischung von zivilem Stadtleben und Militärischem über das Erleben eines Krieges aus? Aus dieser Perspektive heraus werfen wir im Folgenden ein Schlaglicht auf diesen nicht nur künstlerische, sondern auch Länder-und Sprachengrenzen überschreitenden Poeten.
Poetische Suche nach Unabhängigkeit und europäischer Integration
Zunächst sei van Ostaijens Einsatz für die Flämische Autonomie erwähnt, die wie ein Leitmotiv Leben und Werk dieses belgischen Lyrikers durchzieht. Hier Verlinkung zum Djdaktikbaustein und zu weiteren biografischen Inhalten möglich Diese Suche nach Identität erweist sich unter dem Eindruck des deutschen Einmarsches jedoch als erschüttert und weicht einer allumfassenden Niedergeschlagenheit:
Loch Meer Wrack
t’en fais pas.
Lahmer Omnibus über müdegelebte Straße
Träge Züge durch lahmes Land.[2]
Diese Worte wirken demnach ebenso wie die revolutionären Hoffnungen deformiert, d.h. auf groteske Weise verformt. Das Leben in der besetzten Stadt scheint dahingehend aus den Fugen und in Unordnung zu sein. Diese typografische Poesie [hier Verlinkung zum Didaktikbaustein, Stichwort typografische Poesie] vermittelt allerdings gleichermaßen einen Rest des Unabhängigkeitstrebens: Das einzelne Wort erscheint von typografischen Zwängen befreit und erhält den Status eines autonomen, für sich stehenden Kunstwerks. Van Ostaijens revolutionäres Denken erlahmt zwar wie die ermüdeten Busse, aber schwindet nicht gänzlich aus seinen Erinnerungen.
Nichtsdestoweniger liegt der avantgardistische Traum von der gesellschaftlichen Erneuerung größtenteils in Trümmern. Die Löcher in den Wracks erscheinen wie ein allgemeines Sinnvakuum, das Hoffnungen verschlingt. Fast wie ein Seufzer folgt dem Anblick der Trümmer ein desillusioniertes „t’en fais pas“ – „mach dir nichts draus“. So bleiben nur müde Resignation und ein allseits das Werk durchziehender Nihilismus, dem beinahe leitmotivische Bedeutung zukommt:
Nihil. [...]
Abschwören und
drauf pfeifen
Statistikern Bischöfen Generalen das Vergnügen gönnen
Kinder zu zählen
Deo Gratias
Amen. [...]
Kreisend nihil
Rechteck nihil
Dreieck nihil [...].[3]
Dieser Nihilismus drückt aus, wie im Krieg alle zuvor verbindlichen Werte schlagartig an Bedeutung verlieren und das industrialisierte militärische Zweckdenken, metaphorisiert durch abstrakte geometrische Figuren, Antwerpen zunehmend einnimmt. Alles Weitere scheint im Krieg egal zu sein, man könnte zugespitzt sagen: Im Tod sind alle gleich. Damit einhergehend wird eine Differenz zwischen menschlichem Subjekt und abstraktem Ding bzw. Objekt eingerissen: Der Mensch wird zählbar, steht mitsamt seinem philosophischen Denken plötzlich mit den Dreiecken und Kreisen in einer Reihe und sieht sich in der logischen Konsequenz entmenschlicht, d.h. zum anonymen Ding herabgewürdigt. Mensch und (Kriegs-) Maschine mischen sich aus diesem Grunde an mannigfaltigen Stellen: „Die Züge haben den matten Rhythmus müder Menschen“.
Auf diese Weise verortet sich „Besetzte Stadt“ als avantgardistische Kriegsliteratur, die diese einschneidende Erfahrung vermittelt: Wie weitere europäische Dadaisten gestaltet van Ostaijens Werk diese Spezifika des ersten maschinierten Weltkriegs als neuartige, den Wortsinn zertrümmernde Schockerfahrung. Dieser als „BOUM“ erfahrene Knall, dieser Schock erlebter Erfahrung, durchdringt also als mitschwingender Kontext jedes Wort in „Besetzte Stadt“: Paukenschläge lassen nicht mehr zwischen Zivilleben und Kriegsfanfaren unterscheiden, Worte fallen senkrecht wie Bomben und selbst in der Stille, im wohltuenden Prasseln des Regens scheint der Kriegslärm nachzuhallen. Auch das Kino wird kriegerisch, wie diese Einstiegssequenz bezeugt: „je croyais m’être mis dans la peau d’un honnête homme; ME voilà dans celle d’un assasin.“ Ich dachte, ich sei ein aufrichtiger Mensch gewesen, und nun finde ich mich in der Haut eines Mörders wieder. Jeder, so suggeriert es diese Passage, ist in der „Besetzten Stadt“ von den verbindlichen Werten abgefallen.
Relikte der flämischen Vorkriegsgesellschaft
Nichtsdestotrotz wirken Spuren der Flämischen Vorkriegsgesellschaft als historische Fundstücke nach, wie z.B. ein Rekurs auf den christlichen Glauben zeigt:
Wo du zu Schau gestellt bist in der besetzten Stadt
schreit deine Trostlosigkeit vom Kreuz herab.[4]
Dieser gereimte, himmlisch klingende Vers wirkt binnen der allgegenwärtigen Zerstörung regelrecht harmonisch. Nicht nur an dieser Stelle reaktualisiert van Ostaijen einen Diskurs der Flämischen Vorkriegsgesellschaft: Viele Flamen hielten den Abfall vom Glauben für das zentrale Problem, nicht die soziale Klassenfrage. Demnach bestand die revolutionäre Hoffnung der Vorkriegszeit in dem Wunsch, ein in vier „Säulen“ zerfallenes Volk zu einen: Katholiken, Protestanten Sozialisten und Säkularisierte sollten in Harmonie miteinander und nicht nebeneinander leben. Nun jedoch erscheinen die Opfer als unschuldig Gekreuzigte, die womöglich für ihre Suche nach Unabhängigkeit starben. Der Rekurs auf den Glauben bezeugt zugleich, dass das Herz Flämischer Identität unter den Trümmern weiterschlägt. Der Traum von dem friedlichen Paradies scheint van Ostaijen auch hier nicht aufgegeben zu haben. Diese Trümmer Flämischer Identität stehen somit in einer eigentümlichen Spannung zu einer offensichtlich verformten Sprach-Identität und verlebendigen so umso deutlicher den Verwirrungszustand, den die Besatzungszeit in den Menschen evozierte.
Sinnlichkeit als Rekurs auf das Allgemein-Menschliche
Alles in allem findet das lyrische Werk bei aller Resignation stets zu einem autonomen Spiel mit der Sprache zurück und gibt die Hoffnung auf Unabhängigkeit nicht auf. Es befreit, obwohl die Sprach-Identität zweifellos traumatisch zerstört erscheint, in einem Gestus der Autonomie die Worte aus semantischen und typografischen Zwängen und behauptet sich mit einem künstlerischen und politischen Gestus der Eigenständigkeit. Durch sein Aufgreifen avantgardistischer Elemente vermittelt van Ostaijen obendrein die Hoffnung auf eine friedliche Integration in ein europäisches Miteinander: „Besetzte Stadt“ ist demnach ein Gedichtband, welches sich sowohl im Kontext Flämischer als auch gesamteuropäischer Identität perspektivieren lässt.
Darüber hinaus ist „Besetzte Stadt“ ein menschliches Buch: Die Ansprache des visuellen und des auditiven Sinns betont das Allgemein-Menschliche vor den kulturell beschränkten Aspekten der Sprache. Die gezielte Verwendung lautmalerischer und typografischer Poesie [hier am besten wieder zum Didaktikbaustein verlinken] bevorzugt demnach, was uns, sei es durchs Sehen, sei es durchs Hören, kulturübergreifend verbindet. So bewahrt diese – im Wortsinn – sensible Ausgestaltung vor einer Abstumpfung der Sinne, die sonst Kriegsbilder wie Kinofilme an uns vorbeiziehen ließe. Vor allem schimmert hierdurch bei allem Nihilismus fortwährend ein Funke Hoffnung auf Freiheit auf, der durch alle Sprachen, Zeiten und Kulturen geht.
Lesen Sie auch unseren niederländischen Unterrichtsbaustein zu Paul van Ostaijen
- von Sabrina Jordt -
Quellenverzeichnis:
Primärquelle:
Paul van Ostaijen: Besetzte Stadt. Aus dem Niederländischen von Anna Eble. Original-Holzschnitte und Zeichnungen von Oscar Jespers. Heidelberg: Das Wunderhorn 2024.
Sekundärquellen:
Wiedenstried, Holger E.: Kindler Kompakt Niederländische und Flämische Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler 2016.
Klinkert, Thomas/ Hufnagel, Henning/ Müller, Olaf: Stadt - Krieg - Literatur: Stadt und Urbanität unter den Bedingungen des Krieges 1914-1945. Berlin: De Gruyter 2022.
Berg, Hibert van den/ Fähnders, Walter: „Expressionismus“. In: Dies.: Metzler Lexikon Avantgarde. Stuttgart: J.B. Metzler 2009.
Bogner, Ralf Georg: „Expressionismus.“ In: Burdorf, Dieter/ Fasbender, Christoph/ Moenninghoff, Burkhard: Metzler Lexikon Literatur: Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J.B. Metzler 2007.
Museum Ephraim-Palais: „BOEM! Paul van Ostaijen in Berlin.“ Auf: www.stadtmuseum.de, URL: https://www.stadtmuseum.de/pm/boem-paul-van-ostaijen-in-berlin-ab-14-oktober-im-museum-ephraim-palais [zuletzt: 26.04.2024].
Frie, Norbert: „Ausstellung über Paul van Ostaijen.“ Auf: https://idw-online.de [Informationsdienst Wissenschaft], URL: https://idw-online.de/en/news5216 [zuletzt: 26.04.2024].
Anmerkungen:
[1] Paul van Ostaijen: Besetzte Stadt. Aus dem Niederländischen von Anna Eble. Original-Holzschnitte und Zeichnungen von Oscar Jespers. Heidelberg: Das Wunderhorn 2024. S. 101.
[2] Paul van Ostaijen: Besetzte Stadt. Aus dem Niederländischen von Anna Eble. Original-Holzschnitte und Zeichnungen von Oscar Jespers. Heidelberg: Das Wunderhorn 2024. S. 11.
[3] Paul van Ostaijen: Besetzte Stadt. Aus dem Niederländischen von Anna Eble. Original-Holzschnitte und Zeichnungen von Oscar Jespers. Heidelberg: Das Wunderhorn 2024. S. 11.
[4] Paul van Ostaijen: Besetzte Stadt. Aus dem Niederländischen von Anna Eble. Original-Holzschnitte und Zeichnungen von Oscar Jespers. Heidelberg: Das Wunderhorn 2024. S. 75.