Gibt es eigentlich den typisch belgischen Film? In erster Linie ist Belgien bekannt für seine weltberühmten Comics und vielfältige Kulinarik mit seinen zahlreichen Bier- und Schokoladensorten. Auf den zweiten Blick hat sich jedoch auch eine ebenso vielseitige und unverkennbare Filmszene des mehrsprachigen mitteleuropäischen Landes über die Jahre hinweg entwickelt. Auch wenn die weitläufige belgische Filmszene und seine Regisseur*innen - bis auf wenige Ausnahmen - bisher noch wenig Popularität bei den europäischen Nachbarn gewonnen haben, lohnt es sich dennoch einen Blick auf die komplexe Filmszene Belgiens zu werfen: am Beispiel des Kultfilms Mann beißt Hund.
Inhaltsverzeichnis
- Der belgische Film: Charakterisierung
- Mann beißt Hund
- Belgische Identität?
- Kritik
- Anmerkungen
- Quellenverzeichnis
Der belgische Film: Versuch einer Charakterisierung
Belgische Regisseur*innen sind unter anderem bekannt für ihre große Experimentierfreudigkeit und tendieren oft dazu, mit Themen und Darstellungen zu arbeiten, die zu Beginn fremd und ungewöhnlich erscheinen mögen.[1] Zwischen all der Experimentierfreudigkeit ist der belgische Film aber vor allem charakterisiert durch seine skurrilen, befremdlichen, aber auch humorvoll-komischen Kompositionen. Grundsätzlich lässt sich die belgische Kinokultur in zwei verschiedene Genres unterteilen: Es lässt sich ein Parallelbestehen der Kategorien des klassischen Sozialdramas mit Filmen unter anderem der Gebrüder Dardenne (die auch in Deutschland bekannt sind), und dem Bereich der – mitunter bizarren schwarzen oder surrealistischen – Komödie verzeichnen, dessen Kultvertreter Jaco van Dormael und Benoît Poelvoorde zur Generation der 1990er Jahre zählen.[2]
In Bezug auf die gesellschaftlich-politische Situation lässt sich feststellen, dass Belgien zudem auch als „Kino der Außenseiter“ gekennzeichnet werden kann.[3] Geprägt von der Mehrsprachigkeit und dem flämisch-wallonischen Konflikt des Landes, ist sowohl Belgien als auch seine Kinokultur gezeichnet von einem 'diffusen Unzugehörigkeitsgefühl', die den Zuschauenden im Kinosaal in einer humorvollen Art und Weise präsentiert wird.[4] Gegenstand der Filme sind oftmals randständige Protagonist*innen, die sich mit genau diesem Unzugehörigkeitsgefühl und den damit zusammenhängenden Identitätskrisen auseinandersetzen.[5] Des Weiteren werden die Spannungen zwischen Flandern und den Wallonien von manchen Kritiker*innen als Ursprung für die eher aggressive filmische Erzählweise gesehen, die nicht selten auch auf die Darstellung einer kaputten und kranken Welt übergeht.[6] Ähnliche Auswirkungen hat dieser Konflikt auch auf die belgische Literaturlandschaft.
Wer sich im Kinosaal in unwirkliche Traumwelten flüchten oder sich eine Aneinanderreihung zynischer Darstellungen ansehen möchte, der könnte im belgischen Kino fündig werden, denn Surrealität und Nihilismus sind ein weiteres präsentes Charakterisierungsmerkmal der belgischen Filmszene. Die Filme spielen oftmals in einer bewusst unrealistischen oder gar surrealen Welt, in der den Zuschauenden durch aussagekräftige visuelle Reize traumartige Szenen des Inneren präsentiert werden. Im Hinblick auf den Nihilismus und schwarzen Humor kann der Kultfilm Mann beißt Hund (frz. C’est arrivé près de chez vous) als Paradebeispiel für das Genre gelten, das der Schwermut eher mit Zynismus und nicht mit althergebrachter Poesie begegnet.[7]
Der Film Mann beißt Hund, der von Benoît Poelvoorde, Rémy Belvaux sowie André Bonzel als mockumentarische Dokumentation gedreht wurde, erreichte nach der Veröffentlichung in den frühen 1990er Jahren internationalen Kultstatus.[8] Schon die Grundidee eines Protagonisten, dessen Beruf der eines Serienmörders ist, sowie die Begleitung eines studentischen Filmteams, die die mörderischen Taten aufzeichnet, ist so realitätsfremd und absurd, dass schon allein diese Tatsache eine Komik in sich birgt. Auf der einen Seite tötet der Serienmörder Ben Kinder und vergewaltigt mit Unterstützung seines Kamerateams eine Frau, auf der anderen Seite lässt er seinen Charme spielen, philosophiert über Gott und die Welt und zitiert Gedichte.[9] Die Morde werden als vollkommen ordinäre und akzeptierte Ausführung dargestellt, die von keiner Person zu irgendeinem Zeitpunkt explizit hinterfragt wird, auch wenn seinem Beruf seitens seiner Familie – denen, die davon wissen – mit unterschwelliger Abneigung begegnet wird. Dieser kontroverse und provokative Film bietet dem*der Zuschauer*in von Beginn an eine schonungslos brutale Vorstellung, die durch ihre groteske und befremdliche Grundidee eines erbarmungslosen Serienmörders, gefüllt mit zahlreichen schwarzhumorigen und zynischen Bemerkungen, einen vieldiskutierten Beitrag im Bereich des ausdrucksstarken belgischen Films liefert.
Mann beißt Hund: Grenzwertige Satire als Realityreportage
Mann beißt Hund (frz. Originaltitel: C’est arrivé près de chez vous) folgt vor dem Hintergrund seiner Geschichte einer ungewöhnlichen Erzählweise, sowohl inhaltlich als auch stilistisch wird die Handlung des Filmes mit einer Art wiedergegeben, die unpassend scheint. Die fehlende Harmonie zwischen dem, was passiert, und dem, wie das Geschehen filmisch verarbeitet und bewertet wird, mag der Unkonventionalität dieser Dissonanz geschuldet sein: Man könnte bei den vielen gewaltvollen Action- und thrillerähnlichen Szenen eine entsprechende Dramatik erwarten, anstelle derer jedoch neutrale bis humorvolle Berichterstattung tritt. Die Diskrepanz zwischen brutalem Inhalt und komödiantisch durchdrungener Darstellung erklärt sich aber bei der Feststellung, dass Mann beißt Hund dem Genre der Mockumentary zuzuordnen ist:
Auch als Dokumödien benannt, beschreibt man damit „Filme, die den Dokumentarfilm als Gattung in seinen formalen Strategien nachäffen“.[10] Nach ihrem Vorbild bedienen sie sich an Mitteln wie der handgeführten Kamera, eingefügten persönlichen Interviews, der Abwechslung zwischen Wiedergabe von handlungsgesättigter und nebensächlicher Szenen, die die spontane Natur der Reportage und eventuell ihre Low-Budget-Ästhetik emulieren. Beispielsweise die abrupten Schnitte mit prompt wechselnden Szenen, die im Gegensatz zu nach Drehbuch abgestellten Filmen unsauber wirken oder auch der Einbehalt von Aufnahmen ‚unwichtiger‘ Handlung möchten eine Natürlichkeit vermitteln: Die ästhetische Wirkung versucht dabei, so nah an die Machweise des Dokumentarfilms heranzukommen wie möglich und die Gestalt der Mockumentary offenbart sich nur an der Fiktionalität des Erzählten. Durch Geschichte und Charaktere dabei bleibt diese unverhohlen, sie besitzt durch die Absurdität des Gezeigten Komik, die zum Ziel nicht selten Gesellschaftskritik besonders eindrücklich daherbringt. Diese Mischung aus unbekanntem, belustigendem Erzählten und bekanntem, dem Zuschauer angewöhnten medialen Darstellungsrahmen birgt großes satirisches Potenzial.[11] Das Absurde ebendieses Genres zeigt sich in Mann beißt Hund bereits in der Prämisse eines studentischen Amateurenfilmteams auf der dokumentarischen Begleitung eines semiprofessionellen Serienmörders, dessen stilistische Konsequenzen der fehlenden Professionalität durch Schwarz-Weiß-Film, authentische Störeffekte in Bild und Ton oder die handlungsspärlichen Aufnahmesequenzen der bereits absurden Geschichte ein Übriges tun.
Die explizite Darstellung aller grausamen Szenen erzeugt mit dem Mittel der fehlenden, moralisch angemessenen Stilistik und einer somit eher als ‚trocken‘ erfahrenen Wiedergabe einen Effekt in der Rezeption des*der Zuschauer*in: Die Entscheidung, empathisch zu sein mit und verstört von dem Vergehen an den Opfern von Benoît, vom Kamerateam freundschaftlich Ben genannt, oder sich dem Unterhaltungswert der Gewaltdarstellungen hinzugeben, kann unbewusst geschehen und den Schock über diese auf affektiver Ebene belassen, wie es ein Horrorfilm tun würde, oder bewusst getroffen werden und den*die Zuschauer*in zum*zur aktiven Beobachtenden des Prozesses seiner autonomen Einschreibung in die mediale Darstellung von Brutalität machen. Es ist dem Verlauf des Films eine Wandlung vom ersteren Sehvergnügen zum letzteren Bewusstsein abzugewinnen. Da die dargestellten Mordszenen von weniger brutal bis hin zu grausamen Exzessen immer graphischer werden, während die unaffektierte Berichterstattung der an der bloßen Dokumentation interessierten Filmcrew und die komödiantische Atmosphäre stets gleich bleiben, bildet der Film eine Skala der Abscheulichkeit, an der entlang ein*e Zuschauer*in geführt wird und sich selbst an dem Punkt des Umschwungs von der eigenen Brutalitätstoleranz, ermuntert durch satirisch-komödiantischen Mantelung, zum schieren Entsetzen über diese Brutalität und über das bisherige Gefallen an dieser ertappt sieht. Ist dieser (Wende-)Punkt bereits in der Anfangsszene erreicht, in der Ben die erfolgreichste Methodik, sich eines Körpers im Fluss zu entledigen, erklärt? Oder beim ersten Mord durch herbeigeführten Herzstillstand der Rentnerin, dann in dem versuchten Raub eines Briefboten, später während des gemeinsamen Erwürgens eines Kindes, das seine zuvor totgeschlagenen Eltern auffand? Das Ende der Skala bilden die Gruppenvergewaltigung und anschließende Ermordung einer Frau mit Dokumentation des Tatorts, an dem die geschändeten Leichname des Paares hinterlassen werden, und schließlich das Erschießen eines Bekannten Bens in Gesellschaft seines Freundeskreises am Geburtstagstisch. Der sich zuspitzende Verlauf der immer blutigeren Mordserie wird zum persönlichen Experiment für die Zuschauenden, die sich früher oder später fragen werden, an welchem Punkt die Lust am Schauen abgegeben wird, und noch wichtiger, warum und wie diese bis dahin gehalten werden konnte.
Der sich stufenweise evolvierende Einbezug des fiktiven Kamerateams Rémy, André und Vincent zieht eine parallele Entwicklung vom Beobachter über den Mithelfenden zum Täter, da die anfangs nur beistehenden, passiven und neutralen Filmemacher zuerst beim Mord des Jungen assistieren, später die ihnen von Ben in die Hand gedrückte Waffe rumreichen und damit eine rivalisierte Gruppe abschütteln und zuletzt zu Vergewaltigern und Mördern werden. In der Seherfahrung führt die Gleichsetzung der Zuschauenden mit der Kamera und ebenso mit dem Filmteam – die subjektive Kamera – zwangsweise zur Identifikation mit der Täterschaft, die dem Publikum nach und nach in der Abwicklung der Geschehnisse aufgeladen wird. Im übertragenen Sinne stellt sich die Frage nach Schuld und nach wörtlicher Mittäterschaft, zumindest nach moralischer Verantwortung, im allgemeinen medialen Verhältnis, da sie zur Reflektion nötigt: Welche Grenzen hat ein Film, sind diese jene des guten Geschmacks oder gar der Moral, und bis wohin hat die Zuschauerschaft eine Verantwortung zu tragen?
Auf der anderen Seite der Geschichte steht ein stets atmosphärisch neutral bis freundlich gehaltener Stil, wie er an eine authentische Dokumentation erinnert. Die Überzeugung, dass es sich um eine solche handelt, wenn auch nachahmend erzeugt, handelt die Realität der Filmtechnik aus. Neben der offensichtlich amateurhaften Technik von unsteter Kameraführung, Aufnahmen von Nebengesprächen, zwischendurch fehlendem Ton und wenig übersichtlichen Kameraperspektiven, bietet auch die Handlung fernab des kriminellen Alltags zwischen den Verbrechensdarstellungen persönliche und authentische Szenerien, die einen Eindruck des unmittelbaren Miterlebens des Geschehenden erzeugen. Die Filmaufnahmen, die sich in der Geschichte am Ende des Films als zusammengelegtes Material der Kamera ergeben müssen, fungieren für das Publikum, welches sich als Leserschaft dieses Logbuchs versteht, als Eintritt in das Gezeigte, die Kamera wird unmittelbare Platzhalterin für die Zuschauenden, sie sind in der Handlung hautnah dabei.
Diese verfügt über eine gewisse Situationskomik, die ebenso nur durch ihre Leichtigkeit im Kontrast zu den brutalen Handlungen entsteht. Zum einen belustigt die Sorglosigkeit Bens, der während seiner Gewalttaten sein Vorgehen erklärt. Zum Tod der alten Dame, dank deren Gutgläubigkeit er als vermeintlicher Interviewer neben ihr auf dem Sofa Platz nimmt, um sie mit plötzlichem Schreien durch Herzinfarkt zu töten, macht er beiläufig die Bemerkung, Munition gespart zu haben. Nach dem Mord an dem Jungen bedauert er die Tragik des sinnlosen Todes, als im Haus seiner Familie nichts zu plündern ist. Die Banalität, hier in Bens belanglosen Kommentaren während dieser grausamen Zwischensequenzen auffindbar, verdeutlicht sich auch an solchen Szenen, in denen er mit dem Filmteam ausgeht, um gemeinsam Muscheln zu essen, oder eine Bar zu besuchen. Benoîts Charme, der sich aus seiner Großzügigkeit zu den jungen Filmemachern speist, die er willig auf seine Profikiller-Streifzüge mitnimmt und aus seinen witzigen Bemerkungen ergibt, konfrontiert die Zuschauenden mit zusätzlicher Schwierigkeit, sich nach Sympathieaufbau zum Hauptcharakter, Protagonist und Antagonist zugleich, vom Schaugenuss des absurden Abscheulichen zu lösen.
Der Originaltitel C’est arrivé près de chez vous deutet auf die Zielscheibe der Satire von Belvaux, Bonzel und Poelvoorde, die in dieser grotesken Vermischung von komödiantischer Mockumentary mit Thriller- und Horrorfilmelementen die im Kino üblichen Gewaltdarstellungen reflektieren und die Frage stellen wollten, was gezeigt werden darf und was nicht.[12] Folglich prangert der Film die Begierde nach Sensation des Publikums an und hält ihm eine überzogene Variante des gewaltvollen Kinofilms vor als Persiflage einer entarteten Medienlandschaft. ‚Das ist bei Ihnen in der Nähe passiert‘ erinnert an Anpreisung realitätsnaher Berichterstattung vom Verbrechen, an ihre Entfachung von Appetit auf Furore und stößt bei Betrachtung dieses Titels geschmacklos auf.
Belgische Identität?
Identität in Filmen wird zumeist durch die Zuschauenden emotional ansprechende Charaktere sowie moralische Handlungen geschaffen. Um identitätsschaffende Gefühle zu erwecken, werden bestimmte Gruppenmerkmale geschaffen, in Filmen werden diese gezeigt. Das kann beispielsweise nationale, kulturelle, sexuelle oder religiöse Identität sein. Wenn das Thema Identität behandelt wird, treten typischerweise wiederkehrende Muster auf. Diese sind zum einen das Austreten aus einer alten und das Eintreten in eine neue Gruppe. Coming-of-Age Filme etwa zeigen klassischerweise die Emanzipierung von der konservativen Familie hin zum Eintritt in den progressiven Freundeskreis und dem damit einhergehenden Prozess des ‚Erwachsen-werdens‘. Der Soziologe Carsten Heinze zeigt die Möglichkeiten auf, die sich dem Dokumentarfilm bieten, um das Thema Identität wirkungsvoller als etwa der Spielfilm darstellen zu können. So werde durch den Wahrheitsgehalt der Dokumentarfilme ein stärkerer Realitätsbezug hergestellt.[13] Hier stellt er fest, dass in dokumentarischen Filmen häufig die kulturelle Identität behandelt wird. Auch in Mann beißt Hund werden kulturelle Anspielungen auf belgische Identität gemacht, beispielsweise wenn Ben das Filmteam zum Austernessen einlädt. Außerdem spielt der Film in Brüssel, durch die dokumentarische Filmweise bekommt der Zuschauer so einen Einblick in das Brüssel zu Beginn der neunziger Jahre. Andere Merkmale, die ihm eine nationale bzw. belgische Identität geben könnten, sind weniger erkennbar. Nichtsdestotrotz mag die Charakterzeichnung der Hauptfigur generelle Fragen nach Identität und Selbst-Bewusstsein im Stil des Films American Psycho von Mary Harron aus dem Jahr 2000 stellen, und inwiefern die Gesellschaft solche pervertierten und zerrissenen Identitäten hervorbringen kann.
Kritik
Rémy Belvaux, André Bonzel and Benoît Poelvoorde haben den Film Mann beißt Hund selbst geschrieben, die Hauptrollen gespielt und Regie geführt. Sie taten dies aus monetären Gründen, da sie zu dem Zeitpunkt noch Studenten an der Universität waren und regelmäßig in Geldnot waren.[14] Eine weitere Maßnahme, das Filmbudget klein zu halten war die Wahl des Filmstils. Anstatt einen Spielfilm zu drehen, entschieden sich die drei Studenten für eine Mockumentary, also eine fiktive Geschichte im Stil eines Dokumentarfilms. Typische Merkmale sind vermeintlich realistische Szenen, in denen die Charaktere wissen, dass eine Kamera präsent ist und gleichzeitig mit dieser (also den Zuschauenden) sprechen. Außerdem ist die Kamera häufig verwackelt und das Mikrofon hängt teils im Bild,[15] hierbei handelt es sich um eine Suggestion real-authentischer Aufnahmesituationen vor Ort. Die Wahl der Kameraführung hat jedoch auch Effekte auf die Zuschauenden. Dadurch, dass eine Konnotation zwischen dem Stil des Dokumentarfilms und einem gewissen dazugehörigen Wahrheitsgehalt besteht, sind die Zuschauenden verführt die Geschehnisse emotional involvierter aufzunehmen.[16] Der deutsche und englische Titel Mann beißt Hund, bzw. Man Bites Dog folgt dem journalistischen Beispiel, laut dem die Schlagzeile Hund beißt Mann nicht sonderlich besonders wäre, andersherum hingegen schon. Andererseits könnte dieser Titel auf die Animalität der Taten und des Täters weisen. Der französische Titel fokussiert sich mehr auf die Thematik des Allgegenwärtigen, die Aktion könnte „bei Ihnen“ passieren. Die Übersetzung des Filmtitels des belgischen Kultfilms greift die Medienlandschaft laut Heinze direkter an, als es der Originaltitel tut.[17] Übrigens, der niederländische Titel hielt sich am französischen Original: Het is dicht bij u gebeurd.
Gewalt in dem Film ist an manchen Stellen drastisch und explizit dargestellt, Heinze nennt den Film „kannibalistisch“.[18] Und genau hier scheiden sich die Meinungen am meisten. Die realistische Machart und der demgegenüber stehende konträre und kontrastreiche Gewaltfaktor lassen die Szenen authentisch wirken. Hier wird anders als etwa in hyperbrutalen Filmen, in denen Blut fast schon als Wiedererkennungsmerkmal und artistisches Stilmittel benutzt wird, man denke beispielsweise an Quentin Tarantino, mit realistischer Brutalität gearbeitet: Brutalität wird nicht etwa durch meterhohe Blutfontänen oder explodierende Körper dargestellt, sondern eher durch die Angriffe auf die psychische Ebene der Zuschauenden. Dazu kommen die Entwicklungen der Kameraleute, die zu Beginn teilnahmslos (wie die Zuschauenden) waren und sich am Ende bei der Gruppenvergewaltigung aktiv strafbar machen. Viele dieser vulgären Szenen werden für ihre Darstellung kritisiert, nicht alle Kritiker- und Zuschauer*innen sind begeistert von diesem Stilmittel. Allgemein erfuhr der Film jedoch positive Resonanz und wurde als Studentenfilm mehrmals ausgezeichnet, so verzeichnet die IMDb sechs gewonnene Preise und fünf Nominierungen, darunter auch zwei Siege beim Cannes Film Festival (Special Award of the Youth und SACD Award). Die IMDB-Zuschauerwertung liegt bei 7,4 von 10 möglichen Punkten, die Produktionskosten beliefen sich auf umgerechnet knapp unter 30.000$.
Besonders gelobt wird die böse Überzeichnung der Charaktere und die beißende Kritik an der Medienlandschaft. Die Filmzentrale bemerkt die Parallelen zwischen dem Film und der aufkommenden Reality-TV Landschaft, bei der immer schamloser auf schwache und hilflose Menschen geschaut wird. Auch die Immersion der Zuschauenden und die wachsende Fassungslosigkeit die mit jedem weiteren Verbrechen zunimmt, wird als Stärke herausgestellt. Heinze schreibt, dass die Schwarz-Weiß Wahl der Filmemacher ein Stilmittel für die Oppositionen der plakativen Gewalt und der damit einhergehenden sachlichen Erklärungen darstellt.
- von Marie F. Kersting, Lukas Richter und Valeria Schwandt -
Dieser studentische Text ist im Rahmen des Romanistik-Seminars "Das BelgienNet - medienpraktische Perspektiven auf die Kultur Belgiens" im Sommersemester 2021 entstanden. Andere Beiträge finden Sie hier.
Anmerkungen:
[1] Vgl. CHARREAU, Leslie et al., „La belgitude en cinématographie, les membres de SBC à propos de leur style de travail“, in: Mediarte (2020), URL: https://www.mediarte.be/fr/dossiers/formation/stories/la-belgitude-en-cinematographie-les-membres-de-sbc-a-propos-de-leur (31.05.2021).
[2] Vgl. BLUTH, Johannes, „Das Leben ist ein diffuser Tumor“, in: Spiegel Kultur (14.12.2017), URL: https://www.spiegel.de/kultur/kino/belgische-komoedien-das-leben-ist-ein-diffuser-tumor-a-1183162.html (31.05.2021).
[3] Vgl. WYRSCH, Georges, „Das Kino der Aussenseiter“, in: SRF (06.08.2017), URL: https://www.srf.ch/kultur/film-serien/das-kino-der-aussenseiter (31.05.2021).
[4] Vgl. ebd.
[5] Vgl. ebd.
[6] Vgl. RUGANI, Fiona, „Der belgische Film in Deutschland“, in: BelgienNet (2020), URL: https://belgien.net/der-belgische-film-in-deutschland/ (31.05.2021).
[7] Vgl. WYRSCH, Kino der Aussenseiter, s. URL.
[8] Vgl. GODIN, Marc, „Pourquoi il faut (re)voir « C'est arrivé près de chez vous »“, in: Le Point (2020), URL: https://www.lepoint.fr/pop-culture/pourquoi-il-faut-re-voir-c-est-arrive-pres-de-chez-vous-23-11-2020-2402236_2920.php (31.05.2021).
[9] Vgl. Mann beißt Hund (1992, Belgien), Regie: Rémy Belvaux, André Bonzel und Benoît Poelvoorde.
[10] JACKSON, Ashawnta, „The Mockumentary: A Very Real History”, in: JSTOR Daily (2020), URL: https://daily.jstor.org/the-mockumentary-a-very-real-history/ (31.05.2021).
[11] Vgl. TAYLOR, Henry M., „Mockumentary“, in: Das Lexikon der Filmbegriffe (zuletzt geändert: 10.03.2022), URL: https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=5125 (31.05.2021).
[12] Vgl. GODIN, Pourquoi il faut (re)voir, s. URL.
[13] Vgl. Heinze, Carsten, „Das Image des Dokumentarfilms“, in: Jörn Ahrens et al. (Hrsg.), Kampf Um Images, Wiesbaden, 2015, 155-156.
[14] Vgl. ELHEM, P., Review of ‘C’est arrivé près de chez vous de Rémy Belvaux, André Bonzel et Benoît Poelvoode’, 24 images, 1992, 53.
[15] Vgl. Heinze, Das Image des Dokumentarfilms, 166-168.
[16] Vgl. ebd., 169-171.
[17] Vgl. ebd., 169.
[18] Vgl. ebd., 175.
Quellenverzeichnis
BLUTH, Johannes, „Das Leben ist ein diffuser Tumor“, in: Spiegel Kultur (14.12.2017), URL: https://www.spiegel.de/kultur/kino/belgische-komoedien-das-leben-ist-ein-diffuser-tumor-a-1183162.html (31.05.2021).
CHARREAU, Leslie et al., „La belgitude en cinématographie, les membres de SBC à propos de leur style de travail“, in: Mediarte (2020), URL: https://www.mediarte.be/fr/dossiers/formation/stories/la-belgitude-en-cinematographie-les-membres-de-sbc-a-propos-de-leur (31.05.2021).
ELHEM, P., Review of ‘C’est arrivé près de chez vous de Rémy Belvaux, André Bonzel et Benoît Poelvoode’, 24 images, 1992, 53.
FOSTER, Gwendolyn Audrey, Identity and Memory: The Films of Chantal Akerman, Edwardsville, 2003.
GODIN, Marc, „Pourquoi il faut (re)voir « C'est arrivé près de chez vous »“, in: Le Point (2020), URL: https://www.lepoint.fr/pop-culture/pourquoi-il-faut-re-voir-c-est-arrive-pres-de-chez-vous-23-11-2020-2402236_2920.php (31.05.2021).
Heinze, Carsten, „Das Image des Dokumentarfilms“, in: Jörn Ahrens et al. (Hrsg.), Kampf Um Images, Wiesbaden, 2015, 153–179.
JACKSON, Ashawnta, „The Mockumentary: A Very Real History”, in: JSTOR Daily (2020), URL: https://daily.jstor.org/the-mockumentary-a-very-real-history/ (31.05.2021).
RUGANI, Fiona, „Der belgische Film in Deutschland“, in: BelgienNet (2020), URL: https://belgien.net/der-belgische-film-in-deutschland/ (31.05.2021).
TAYLOR, Henry M., „Mockumentary“, in: Das Lexikon der Filmbegriffe (zuletzt geändert: 10.03.2022), URL: https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=5125 (31.05.2021).
TODOROV; Alex, „Mann beißt Hund, Kritik der Filmstarts-Redaktion“, in: Filmstarts (o.A.), URL: https://www.filmstarts.de/kritiken/7383/kritik.html (31.05.2021).
WYRSCH, Georges, „Das Kino der Aussenseiter“, in: SRF (06.08.2017), URL: https://www.srf.ch/kultur/film-serien/das-kino-der-aussenseiter (31.05.2021).
O.A., „Mann beißt Hund“, in: ImDb (o.A.), URL: https://www.imdb.com/title/tt0103905/?ref_=rvi_tt (31.05.2021).
O.A., Thomas, „Review: Mann beißt Hund (Blu-Ray)“, in: Leinwandreporter (27.03.2013), URL: https://www.leinwandreporter.com/2013/mann-beist-hund/ (31.05.2021).
Filmmaterial
Mann beißt Hund (1992, Belgien), Regie: Rémy Belvaux, André Bonzel und Benoît Poelvoorde.