Im Jahre 1964 präsentiert der belgische Dichter und bildende Künstler Marcel Broodthaers (1924-1976) erstmalig eine überraschende und skurrile Skulptur mit dem Namen ‚Le Pense-Bête‘. Die Betrachter*innen werden Zeug*innen, wie einige hochkant aufgereihte Büchlein von erstarrtem Schaumgips umhüllt sind. Bei dem nunmehr unlesbaren Werk handelt sich um die gleichnamigen unverkauften Ausgaben von Broodthaers’ Gedichtband „Pense-bête“, gewissermaßen um Ladenhüter, die nun ,im Meer des Vergessens‘ zu versinken drohen. Welche Absicht verfolgt der Künstler mit einer derartigen Installation – abgesehen von einer humoristischen, selbstironischen Wirkung?

Zieht man einige kunstwissenschaftliche Beiträge zurate, stößt man auf ernste und tiefgründige Reflexionen zu Broodthaers’ Arbeiten: Insbesondere die Frage nach der Qualität eines Kunstwerks in einem ökonomisierten, nicht mehr vom ästhetischen ,Geschmack‘ bestimmten Markt wird immer wieder hervorgehoben. Veranschaulicht demnach die genannte Skulptur die Auflösung einer ,schönen‘ Kunst im Schaum des Meeres? Wie lässt sich Broodthaers’ Arbeit künstlerisch begreifen? Begeben wir uns anhand dieser Leitfragen auf die Spuren eines Künstlers, welcher weit über Belgien hinaus als ein Pionier von Konzeptkunst betrachtet wird.

Anfänge in Brüssel: Broodthaers surrealistische Wurzeln

1924 in Brüssel in bescheidenen Verhältnissen geboren, erlebt Broodthaers in den Jahren des Zweiten Weltkriegs zunächst Wellen extremer Armut. Nach einem abgebrochenen Chemiestudium hält er sich deshalb u.a. als Journalist, Buchhändler und Kunstkritiker ,über Wasser‘. Darüber hinaus schließt er sich als Lyriker dem belgischen Surrealismus an: Er publiziert Gedichtbände und begegnete alsbald den Brüsseler Schriftstellern Paul Colinet, Marcel Paqueray, Marcel Lecomte und Paul Nougé. Letzterer wiederum macht ihn mit Magritte bekannt. Fortan sucht Broodthaers ebenfalls die Abkehr vom französischen Surréalismus und André Bretons écriture automatique: Wie Magritte und die weiteren Brüsseler Surrealisten kritisiert Broodthaers das Postulat eines automatisierten Erschreibens des Unbewussten sowie den irrationalen Charakter einer solchen Kunst. Die Brüsseler Surrealisten präferieren demgegenüber einen gemäßigteren Stil, welcher die menschliche Vernunft zum Ausgangspunkt nimmt. Auch der eingangs erwähnt Band „Pense-Bête“ fällt in diese frühe, surrealistisch gegrägte Schaffensphase.

Sprachkritische Reflexionen: die Übernahme Magritte’scher Ästhetik

Mit Gewissheit übt insbesondere jene Begegnung mit Magritte im Jahr 1945/46 einen entscheidenden Einfluss auf Broodthaers’ gestalterisches Schaffen aus. In den Skulpturen nämlich, die er nach Beendigung seiner Dichterkarriere anfertigt, verwendet er auf wiederkehrende Weise Magritte-typische Gestaltungsmerkmale. Darunter fallen beispielsweise die an moderne Werbeplakate erinnernde Kursivschrift sowie das Pfeifenmotiv aus „Ceci n’est pas une pipe“. In seinen Skulpturen übernimmt Broodthaers hierdurch nicht nur Magrittes Humor und dessen Neigung, sich nicht zu ernst zu nehmen, sondern auch eine Sprachkritik, die feststehende Wort-Bild-Gefüge als u.U. zufällig entstandene Konstruktionen ausstellt. Diesen wesentlichen Einfluss Magrittes demonstriert Broodthaers durch seine von Schaum umgebenen Gedichtbände „Pense-Bête“: Nicht nur ironisiert sich der Künstler auf humorvolle Weise selbst, indem er seine Schriftstellerkarriere in aller Öffentlichkeit dem Grund des Meeres anvertraut. Auch übt der bildende Künstler eine eigene Sprachkritik, indem durch die Erstarrung des Schaumgipses das Werk unlesbar wird. Durch die Starrheit der Form wird es unmöglich, die Bedeutung des geschriebenen Wortes herauszufinden. Starre, unflexible und künstliche Konstruktion scheinen die Wahrheitsfindung eher zu behindern denn voranzubringen. Deutlicher wird dies in einer weiteren, 1965 ausgestellten Skulptur: Hier platziert der Künstler nebeneinander zwei menschliche Oberschenkelknochen, die er mit den Farben der belgischen bzw. der französischen Nationalfahne bemalt hat („Fémure d’homme belge“, 1964-65, „Fémure de la femme francaise“, 1965). Dies verweist auf den Konstruktcharakter naturalisierter nationaler Bezeichnungen, die mit der wahren menschlichen Natur nichts gemein haben.

Dennoch handelt es sich nicht, wie überhaupt selten in seinen Arbeiten, um simple Nachahmungen: Immer wieder distanziert er sich ironisch-kritisch von seinem anfänglichen Vorbild Magritte. Dies geschieht unter anderem durch die Parole „Ceci n’est pas un object d’art“ („Das ist kein Kunstobjekt“) und dem Kurzfilm „La pipe satire“ (1969). Darin wird Magrittes Pfeife mithilfe eines Filmmontage auf provokant-satirische Weise an die Stelle eines männlichen Geschlechtsteils gesetzt.

Mallarmé in Antwerpen: das Unergründliche in Wort und Bild

Geht man literatur- und kunstwissenschaftlich noch weiter in die Vergangenheit, stößt man auf ein weiteres Vorbild: das des Symbolisten Mallarmé. Explizite Spuren zu dessen Sprachphilosophie legte Broodthaers selbst in seiner 1969 in Antwerpen eröffneten Ausstellung „Exposition littéraire autour de Mallarmé“ – „Literarische Austellung rund um Mallarmé“. In einer Kooperation mit der Antwerpener „Wide Wide Space Gallery“ verwendet der Künstler u.a. einen Gedichtband dieses Dichters. So platzierte er nebst einem Abdruck von dessen Gedicht „Un coup de Dés“ (dem Originaltext der 1914er Gallimard-Ausgabe) eine eigens bearbeite Fassung. Darauf schwärzte Broodthaers die Worte, darunter auch der bei Mallarmé zentral stehende Begriff „le hasard“ (der Zufall). Beide ,Fassungen‘ hängen in der 1969 eröffneten Ausstellung nebeneinander.

In Verbindung mit Magrittes Sprachkritik betont Broodthaers hierdurch den bei Mallarmé wesentlichen typografischen, d.h. visuellen Charakter der Schrift. Damit einhergehend erfährt Mallarmés hermetisch-unergründliche Ästhetik durch das Schwärzen eine Pointierung, nämlich die einer Zuspitzung der Verdunkelung eines Sinns. Mallarmé zufolge könnten die Worte per se nicht zu der Wahrheit führen, da sie dem Zufall unterlegen seien. Diesen gewollten Eindruck von Unergründlichkeit in Mallarmés Gedicht hebt Broodthaers durch seine Reinterpretation also hervor. Insofern ergänzen sich in dieser Arbeit die von Magritte ausgehenden sprachkritischen Reflexionen und die Philosophie Mallarmés: Gemäß Mallarmé könne nur zur Wahrheit gelangen, wer sich vom Eindruck des Zufalls befreit habe. Da sprachliche Zeichen jedoch immer vom Zufall mitbestimmt seien, müsse der Mensch diesbezüglich ein kritisches Bewusstsein entwickeln, um das wirklich ,Richtige‘ zu erkennen. Dies geschehe laut Mallarmé nur im Bereich des Transzendenten, einer Sphäre außerhalb des Diesseits. Diesbezüglich liest sich Broodthaers’ Bearbeitung von Mallarmés Gedicht wie ein Lektürehinweis und beinhaltet zugleich eine eigene Interpretation von dessen Sprach- und Erkenntniskritik.

Exemplarisch zum Ausdruck gelangt diese Auffassung überdies mittels einer wiederkehrenden Meeresmotivik: Das Wasser mit seiner potenziell unendlichen Perspektive wird bei Broodthaers zum Sinnbild für die Unerreichbarkeit einer höheren Wahrheit. Immerhin ist das Meer ungreifbar, rinnt durch die Finger und kann nicht in einer ,Totalperspektive‘ erfasst werdet. Wahrscheinlich zeigt sich in diesen Meeresreminiszenzen zudem die fortwährende Suche nach einer Identität, die wie die zitierten Muscheln nicht nur am belgischen, sondern auch am niederländischen Strand liegt.

Weitere internationale Einflüsse: Nouveau Réalisme und Pop-Art

Nicht zuletzt übernimmt Broodthaers den Hang zu Fundstücken von der Pop-Art-Bewegung und dem Französischen Noveau Réalisme. Muscheln und Eierschalen finden insbesondere in der letzteren Strömung künstlerische ,Verwendung‘. Damit einhergehend häuft Broodthaers einen Haufen leerer Muschelschalen so in einem Kochtopf an, dass sie einem Turm gleichen, an dessen Spitze ein Topfdeckel thront („Moules sauce blanc“, 1966). Dieses Werk versteht sich in Übereinstimmung mit den Vertretern des Nouveau Réalisme als eine Parodie auf einen Kunstmarkt, welcher schlicht alles Konsumierbare zum Kunstwerk erklärt.

Eine weitere Parallele zum Nouveau Realisme wäre Broodthaers Präferenz für Aktionskunst: Beispielhaft hierfür wäre sein Kurzfilm „La Pluie“ (1969) zu nennen, welcher den Künstler selbst zeigt, wie er mit unberührter Miene in seinem Garten ein Gedicht verfasst. Plötzlich verwischt ein aufkommender Regen die Tinte, während der Künstler ohne jedwede sichtbare Regung weiterschreibt. Es wirkt, als unterwerfe er sich automatischen Schreibtechniken, ohne seiner Umgebung Beachtung zu schenken. Folglich konterkariert Broodthaers mit subtilem Humor nicht nur einen Surrealismus à la Breton, sondern auch ein Künstler-Ego, das auf selbstzentrierte Weise um sich kreist, statt mit seiner Umwelt zu interagieren.

Doch selbst wenn Broodthaers in der vorliegenden Fachliteratur einhellig als Kritiker des Kunstbetriebs dargestellt wird, kann auch eine differenziertere Perspektive eingenommen werden. Immerhin erkennen seine dem täglichen Leben entnommenen Objekte die moderne Lebensrealität ebenfalls an. Insofern lässt sich diskutieren, ob die geläufige Einordnung als Opponent des Kunstmarktes die einzig vertretbare ist.

Reaktualisierung symbolistischer und surrealistischer Sprachreflexion

Wie die vorhergehenden Ausführungen gezeigt haben, zieht sich eine fundamentale Reflexion von Sprache, Kunst und Wahrheit durch die Arbeiten Broodthaers’. Diesbezüglich übernimmt er von Magritte die Betonung der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens sowie dessen humoristische Selbstironie. Ebenso knüpft der Künstler an die Philosophie des Symbolisten Mallarmé an: Dessen Denken kennzeichnet u.a. eine Kritik an der Sprache als Medium zur absoluten Erkenntnis. Diese Suche nach der unendlichen, absoluten Wahrheit versinnbildlicht Broodthaers beispielsweise im Hinblick auf das belgische bzw. niederländische Meer, das wie der Himmel vollperspektivisch niemals ganz erfasst werden kann. Damit kontrastierend bezieht er außerdem leere Muscheln oder Eierschalen in seine Skulpturen mit ein, was auf der Bedeutung der Form für das gestalterische Werk insistiert. Doch der Sinn, die absolute Bedeutung, bleiben in diesen Arbeiten häufig leer. Insofern führt er uns im Sinne Magrittes und Mallarmés fortwährend vor Augen, dass die Wahrheit auch jenseits arbiträr entstandener Zeichen liegen kann.

Quellen:

Björn Stüben: „Noveau Realisme.“ Auf: deutschlandfunk.de (30.03.2007), URL: https://www.deutschlandfunk.de/nouveau-realisme-100.html [Zuletzt: 28.06.2024].

Dorothea Zwirner: Marcel Broodthaers : die Bilder, die Worte, die Dinge. Köln: König 1997.

Karlheinz Lüdeking: „Kann ich nicht irgendwas verkaufen? Der Künstler Marcel Broodthaers.“ Auf: faz.de (28.01.2024), URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/100-jahren-marcel-broodthaers-geburt-der-konzeptkunst-19479744.html [Zuletzt: 28.06.2024]

Prof. Francois Coadou: „Conférence : ,Des images par milliers‘ , paroles d'artistes, Marcel Broodthaers.“ (30.03.2022), Bibliothèque francophone multimédia de Limoges, URL: https://www.youtube.com/watch?v=5ipwPF5rBg8 [Zuletzt: 28.06.2024].

Frank Maes: „Schaum auf Leinwand. Marcel Broodthaers und die Reise übers Meer.“ In: Jan Hoet, Phillip van den Bossche: Das Meer : Hommage à Jan Hoet ; [... exhibition De Zee - salut d'honneur Jan Hoet from 23 October 2014 to 19 April 2015, De Zee Ooostende ; auch in Mu.ZEE] = The sea = La mer = De zee. Ostfildern: Hatje Cantz 2015.