Abstract

Im Folgenden wird untersucht, inwiefern Jacques Brels schauspielerisches Auftreten zu einer neuen Dimension seiner Liedtexte beiträgt. Die angehende Untersuchung setzt sich aus dem Musikvideo Ces gens-là und einer Szene aus seinem Film Le Far-West zusammen.

Inhaltsverzeichnis

Ces gens-là

Das Musikvideo, um welches es sich hier handelt, ist das begleitende Video eines Live-Auftritts des Chansons Ces gens-la.[1] Das Lied thematisiert die Hilflosigkeit gegenüber einer Liebe. Im Lied wird zu einem fiktiven Monsieur gesprochen, wobei diesem verschiedene Mitglieder einer Familie vorgestellt werden. Allerdings werden diese auf einer überzeichneten und lächerlichen Art und Weise beschrieben. Brel ist auf der Bühne zu sehen und trägt einen schwarzen Anzug, der zu dieser Zeit nicht untypisch ist.[2] Die Neutralität seiner Kleidung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Mimik und Gestik des Interpreten. Zudem steht er auch hier wie bei zahlreichen Auftritten vor einem Standmikrophon.

Der Text fängt mit: „D’abord…D’abord, y’a l’ainé (…)“ an. Dieser Satz spiegelt sich in seinem Auftreten wieder, indem Brel das Zeigen seines Zeigefingers mit dem ältesten Familienmitglied gleichzusetzen scheint. Auch an anderen Stellen spiegelt sich das Gesagte in seinem expressiven Vortrag wider. Die Gestik und Mimik Brels fängt zurückhaltend an, bis er zum Familienmitglied Frida gelangt. Gegenüber ihr verspürt der Erzähler eine hingebungsvolle Liebe. Der Grund für die überzeichnete Darstellung der anderen Mitglieder aus Fridas Familie ist, dass sie aufgrund ihres bürgerlichen Hintergrunds der Ansicht sind, dass er ­– das lyrische Ich aus dem Lied­ – nicht angemessen für ihre Tochter Frida sei. Jaques Brel lehnt in seiner Weltanschauung die Bourgeoisie ab, weshalb dies ein Thema ist, welches er auch in seinen Texten aufgreift. Diese intensive Ablehnung zeigt sich auch in diesem Musikvideo. Der Höhepunkt seiner gestischen und mimischen Präsentation liegt vor, sobald der Erzähler seine geliebte Frida erwähnt. Brels Stimme wird eindringlicher. Aufgrund der eingesetzten Mimik und Gestik wirkt er ergriffener und betroffener von der Thematik. Das Lied endet mit den Sätzen „Mais il est tard, Monsieur. Il faut que je rentre chez moi.“ Und kurz darauf verschwindet Jacques Brel aus dem Blickfeld der Kamera. Während sich in der Gestik und Mimik Brels die verbildlichte Dynamik und Ergriffenheit des Liedtextes ab der „Erwähnung“ von Frida zeigt, nimmt sie zum Ende ab und stellt die Aussichtslosigkeit der Situation des Erzählers dar. Brel verschwindet aus dem Blickfeld der Kamera und zeigt auf dieser Weise die Resignation des Erzählers mit seiner Situation.

In dem Liedtext von Ces gens-là wird thematisiert, inwiefern die bürgerliche Weltanschauung ein Hindernis zwischen Liebenden darstellen kann. Aufgrund der persönlichen Ablehnung Jaques Brels gegenüber der Bourgeoisie fügt sein Schauspiel dem Liedtext eine besondere Dimension hinzu. Brels gesanglich-schauspielerische Wiedergabe des Liedtextes verdeutlicht, wie dringlich es aus Sicht Brels ist, die Missstände der Gesellschaft zu beheben und sich gegen sie aufzulehnen. Seine Gestik und Mimik trägt zur Interpretation des Liedtextes bei und hilft dem Zuhörer/Zuschauer bei der adäquaten, von Brel intendierten Interpretation des Chansons.

Im folgenden Abschnitt wird seine kinematographische Karriere näher betrachtet und eine Szene aus dem Film Le Far-West[3] unter der Berücksichtigung filmischer Mittel untersucht. Zwischen 1967 und 1973 hat er in zehn Filmen mitgewirkt. Einige Filme von ihm heißen Mon oncle Benjamin, Les Risques du métier, Franz oder le Far-West. Die wenigen Chansons, die Brel während dieser Zeit geschrieben hat, fanden ihren Beitrag in den Filmen. Zwei Filme lagen Brel besonders am Herzen, da er dort sowohl als Hauptdarsteller als auch als Regisseur wirkte[4]: Einer dieser Filme war Franz, welcher von einer unglücklichen Beziehung zwischen drei Personen handelt. Der andere Film, Le Far-West, handelt von einer Gruppe, die im ‚wilden Westen‘ nach dem verlorenen Paradies ihrer Kindheit sucht. Diese Suche scheitert am Widerstand der Umwelt und an den Differenzen innerhalb der Gruppe.[5] Beide Filme gelten als weitaus ernster und unzugänglicher als Brels bisherigen und erreichten nicht den erhofften kommerziellen Erfolg.[6]

Jacques Brel und die Kamera ©Joop van Bilsen / Anefo, CC0, via Wikimedia Commons

Le Far-West

Szene (00: 34:55- 00:37:33)

Die Szene zeigt Jacques Brel als Schauspieler mit weiteren Charakteren. Sie sind im Freien um ein Lagerfeuer versammelt. Jacques Brel singt sein Chanson L´Enfance und er wird von einer Gitarre und einer Querflöte begleitet. Die Instrumente sowie das Knistern des Feuers im Hintergrund vermitteln ein Gefühl der Entspannung.

Der Chanson-Text, gesungen von Brel, thematisiert die Kindheit. Die erste Sequenzeinstellung, die benutzt wird, ist die Totale. Der Schauspieler Brel ist das Zentrum des Geschehens. Dem Zuschauer wird durch den Establishing Shot der Geschehensort vorgestellt. Er erhält einen Einblick in die Atmosphäre. Kurz darauf ändert sich die Totale zu einer Halbnahaufnahme. Aufgrund der fließenden Kamerabewegung in Form eines Zooms wird der Eindruck erweckt sich auf Brel, das Zentrum des Geschehens, zuzubewegen. Nach dieser Änderung der Rahmung wird eine Kranfahrt (travelling) nach links benutzt. Die Kamera bewegt sich weiterhin um den Schauspieler herum. Auch wenn die Rückenansicht eines Charakters das Sichtfeld schneidet, bleibt Brel im Fokus der Kamera. Interessant ist, dass der Rücken des Charakters, der das Sichtfeld des Zuschauers schneidet, die Position des Zuschauers selbst widerspiegelt; dieser wähnt sich nah am Geschehen und als Teil der Gruppe. Die Langsamkeit der Sequenz erlaubt einen denkwürdigen, würdigenden, möglicherweise sogar feierlichen Blick auf das Ganze. Insbesondere das vorliegende Thema der (verlorenen) Kindheit lässt dies vermuten.

Die Kranfahrt hört auf, woraufhin sich die Kamera immer weiter auf Brel zubewegt, bis er in einer Nahaufnahme zu sehen ist. Während sich die Kamera in die Richtung von Brel bewegt, wird seine Stimme vernehmlich lauter und eindringlicher. Das Ende dieser Szene zeigt eine Großaufnahme von Brels Gesicht. Es ist ein Kontrast zum Anfang der Szene in der Kameraeinstellung zu erkennen. Die Sequenz leitete den Betrachter durch eine Totale ein und endet mit einer Großaufnahme. Dies ist eine kontrastreiche Entwicklung der Kameraeinstellung, die aufgrund ihrer Langsamkeit möglicherweise unbemerkt bleibt.

Insbesondere diese Szene handelt, wie die Thematik des Filmes selbst, von der verlorenen Kindheit und kann als exemplarisch gelten. Der Liedtext teilt mit, dass die Kindheit einem erlaubt zu träumen. Tatsächlich mag die Atmosphäre des Geschehens in Kombination des Chansons ein Gefühl von Sorglosigkeit vermitteln. Diese Sorglosigkeit und Ruhe spiegeln sich nicht nur im Chanson wider. Auch die Musikinstrumente, das Knistern des Feuers, die gewählte Umgebung sowie vor allem Jacques Brels schauspielerisches Auftreten selbst lösen eine Sehnsucht nach Entschleunigung und Ruhe aus. Da Brel das Zentrum des Geschehens ist, trägt sein Beitrag besonders zu dieser Sehnsucht bei: „Jeder Film mit Brel ist unübersehbar, ein Brel-Film – auf ihn zugeschnitten oder von ihm dominiert.“[7]

Anders als in seinen Auftritten, wie im Musikvideo von Ces gens-là, benutzt Brel eine sehr zurückhaltende Gestik und Mimik. Auch das erscheint strategisch, um die Authentizität der gezeichneten Situation am Lagerfeuer in diesem denkwürdigen Augenblick der Rückbesinnung auf die Kindheit subtil zu verstärken. Auffällig ist seine immer lauter werdende, dennoch sanfte, Stimme. Ebenfalls die Farben der Szene wirken beruhigend – die warmen Farben des Lagerfeuers werden psychologisch mit Licht und Wärme assoziiert, was beruhigend auf das Mentale wirkt – und unterstützen die vermittelte Atmosphäre.

Um auf die Frage einzugehen, inwiefern Jacques Brels schauspielerisches Auftreten zu einer neuen Dimension seiner Liedtexte beiträgt, kann gesagt werden, dass indem seine Chansons in Filme untergebracht werden, nicht nur ein sprachlicher Inhalt vermittelt, sondern, wie oben erwähnt, die Atmosphäre eines Chansons über eine bildliche Darstellung erweitert und auch gelenkt, suggeriert werden kann.[8] Schließlich sind „Chansonbezüge […] im Film ein effizientes intermediales Gestaltungsmittel, durch das nicht nur ein sprachlich gefaßter Inhalt transportiert, sondern auch die Atmosphäre eines Chansons evoziert wird.“[9].

- von Vivean Alhisswani -

Dieser studentische Text ist im Rahmen des Romanistik-Seminars "Das BelgienNet III - das Filmland Belgien" im Wintersemester 2022/2023 entstanden. Hier finden Sie die französische Version dieses Artikels.

Anmerkungen:

[1] Vgl. BREL, Jacques, „Ces gens-là“, in: Youtube (13.06.2014), URL: https://www.youtube.com/watch?v=11zbDNSnRT4 (25.02.2023)

[2] Vgl. ebd.

[3] Le Far-West (1973, Frankreich/Belgien), Regie: Jacques Brel.

[4] Vgl. ROSTECK, Jens, Der Mann, der eine Insel war, Hamburg, 2016, 119.

[5] Vgl. WEIß, Michaela, Das authentische Dreiminutenkunstwerk: Léo Ferré und Jacques Brel - Chanson zwischen Poesie und Engagement, Heidelberg, 2003, 228.

[6] Vgl. ROSTECK, Der Mann, eine Insel, 121.

[7] Ebd., 118.

[8] Vgl. WEIß, Das authentische Dreiminutenkunstwerk, 18.

[9] Ebd.

Quellenverzeichnis

ROSTECK, Jens, Der Mann, der eine Insel war, Hamburg, 2016.

WEIß, Michaela, Das authentische Dreiminutenkunstwerk: Léo Ferré und Jacques Brel - Chanson zwischen Poesie und Engagement, Heidelberg, 2003.

Audiovisuelle Quellen

BREL, Jacques, „Ces gens-là“, in: Youtube (13.06.2014), URL: https://www.youtube.com/watch?v=11zbDNSnRT4 (25.02.2023)

Le Far-West (1973, Frankreich/Belgien), Regie: Jacques Brel.