Abstract

Dieser Analysetext beschäftigt sich mit dem Film Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles von Chantal Akerman. Viele Kritiker, Filmliebhaber und Medienwissenschaftler haben bereits sehr umfassend über Jeanne Dielman geschrieben. Es gibt Diskurse über die Kameraeinstellungen, die Bildkomposition, die Zeit, den Raum, die Farben, ja sogar über so etwas scheinbar Banales wie die Küchenfliesen. Ich werde den Film aus einer feministischen Perspektive beleuchten und dabei vor allem auf die Darstellung der Hausfrau, die Routine und das Gefühl des Eingesperrtseins eingehen.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsangabe

Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles ist ein belgisch-wallonischer Film, der 1975 von der renommierten Regisseurin Chantal Akerman und ihrer fast komplett weiblichen Filmcrew gedreht wurde.[1] Der Film begleitet drei Tage im Leben Jeanne Dielmans, einer Witwe, Hausfrau und Mutter eines 16-jährigen Sohnes. Wir sehen sie in ihrem ganz normalen Alltag: Kaffee kochen, Schuhe putzen, einkaufen, abwaschen, kochen, stricken usw. Außerdem sehen wir, wie sie tagtäglich einen Freier in ihrer Wohnung empfängt, um sich nach dem Tod ihres Mannes mit Sexarbeit finanziell abzusichern. Jedoch ist dies für sie kein außergewöhnliches Ereignis, für sie ist es nur eine weitere Aufgabe, die sie jeden Tag abhaken muss. Der Ablauf jeder ihrer Haushaltsaufgaben ist streng getaktet und wird von Jeanne strukturiert, akkurat und perfektionistisch bearbeitet. Der erste Tag zeigt uns Jeannes einwandfreie Routine und etabliert diese als Norm, am Abend des zweiten Tages lässt sie jedoch die Kartoffeln zu lange kochen, weil sie länger als vorgesehen mit ihrem Freier beschäftigt war. Dies ist der Beginn einer Abwärtsspirale des Kontrollverlusts, der sich am dritten Tag zuspitzt und zu dem Mord an ihrem dritten Freier führt.

Hausfrau = Feminismus?

Die Lebenswelt der Hausfrau ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Akermans Filmen und dieses Thema trägt eine implizierte, nicht direkt ausgesprochene feministische Botschaft mit sich.[2] Einige werden sich nun vielleicht fragen, wie ein Film über eine Hausfrau, die ihren Alltag minutiös mit Aufgaben wie aufräumen, einkaufen und kochen verplant, eine feministische Botschaft haben kann. Diese Zweifel erscheinen auch verständlich, denn von den meisten Hollywood-Filmen sind wir es eher gewohnt, dass die Hausfrau als Figur alles andere als feministisch und emanzipiert ist. Tatsächlich erscheint auch Jeanne Dielman wenig emanzipiert. Hausarbeit ist nicht nur eine sich ständig wiederholende und zunichte gemachte Arbeit, sondern vor allem ist es eine dienende Arbeit, denn sie wird immer für andere gleistet, z.B. für Gäste oder wie in Jeannes Fall für ihren Sohn, aus dem etwas Besseres werden soll.[3] Das perfektionistische Erledigen aller Aufgaben scheint auch für Jeannes Selbstwahrnehmung wichtig, denn sie präsentiert sich als gute, gewissenhafte Hausfrau.[4] Ohne ihre Aufgaben hat sie nichts, ist sie nichts. Jeanne Dielman ist also nicht der typische Hauptcharakter eines feministischen Films und auch die Handlung des Films ist nicht inhärent feministisch, dennoch wird eine solche Botschaft vermittelt. Dies liegt vor allem an Chantal Akermans radikalen Filmstil sowie der Interpretationsfreiheit des Publikums, denn die Regisseurin gibt nicht vor, ob Jeannes Leben vorbildlich oder eher abschreckend ist, sie stellt lediglich den Alltag einer Hausfrau auf fast dokumentarische Art und Weise dar. Die Film- und Medienwissenschaftlerin Heike Klippel stellt fest, dass die sonst übliche „kinematografische Festschreibung von Bedeutungen als repressives Konzept verworfen [wird]“[5] und dadurch öffne sich „ein Raum für eine noch nicht existierende Sprache der Weiblichkeit, für einen Feminismus, der zunächst einmal das ,Unaussprechliche‘ zeigt, ohne ihm einen Diskurs und einen Ausdruck aufzuzwingen […]“.[6]

Darstellung der Hausfrau

Das Interessante an der Inszenierung Jeannes ist, dass sie fast nicht wie ein fiktiver Charakter erscheint, sondern wie ein Prototyp der Hausfrau im realen Leben. Chantal Akerman lässt hier die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentarfilm verschwimmen.[7] In manchen Szenen fühlt es sich sogar so an, als würde man als Zuschauer direkt mit im Raum stehen; z.B. wenn Jeanne den Abwasch erledigt und wir durch die sich nicht vom Fleck rührende, statische Kamera nur ihren Rücken erblicken.[8] Dies wirkt viel realistischer als der konventionelle (Kamera-)Blick auf Jeannes Hände oder Gesicht. Akerman wendet sich häufig von etablierten Konventionen ab, und gerade dieser Regelbruch lässt die einzelnen Handlungen Jeannes hervorstechen und auffällig werden. So sagt auch die Regisseurin selbst: „Man kann nur dann wirklich eine Wirkung erzielen, wenn man den Film als Bruch versteht – Bruch mit den traditionellen Formen, Auflösung und Aufhebung dieser Formen“.[9] Besonders deutlich wird diese Abkehr von den Codes des Spielfilmkinos in dem Ausschnitt, in dem sie zunächst duscht und danach die Wanne reinigt[10]: Ihr nackter Körper wird als vollkommen normal dargestellt und die Handlung des Duschens ebenfalls. In dieser ,unaufgeregten‘ Szene ist ihr Körper einfach die Hülle eines Menschen und sie wird nicht als sexy, verführerisch, sinnlich usw. dargestellt, wie man es von anderen Darstellungen von Frauen, etwa aus Hollywoodfilmen, gewohnt ist. Die feststehende Kamera fängt ohne Schnitt alles ein, was passiert. Die fixe Kamera trägt dazu bei, die Normalität und Bedeutungslosigkeit dessen zu zeigen, was im Alltag einer Frau passiert. Jeanne betrachtet sich selbst nicht als Sexualobjekt, und die Kamera tut dies auch nicht. Sie beobachtet sie lediglich in alltäglichen Situationen als menschliche Person.

Das Zuhause als Käfig

Eine ähnliche Humanisierung lässt sich in der Raumkonzeption wiederfinden. In einer Vorlesung des Deutschen Filminstitut & Filmmuseum zu Jeanne Dielman vermerkt die Gastsprecherin Eva Kuhn, dass sich der Großteil des Films und somit der Großteil Jeannes Lebens innerhalb der 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles abspielt.[11] Die kleine Wohnung stelle dementsprechend ein in sich hermetisch abgeschlossenes Lebensuniversum dar, das dem Zuschauer ein Gefühl des Eingesperrtsein vermittelt.[12] Die fixe Kamera und die starke Rahmung, welche Jeannes Universum von der Außenwelt abschottet, bestärken dieses beklemmende Gefühl.[13] Auch die Bildkonzeption des Raumes fordere das etablierte Erzählkino heraus, sodass der Zuschauer Handlungen, Handlungsträgern und mystifizierte Bilder der Frau neu interpretieren muss.[14] Jeanne wird in vielen Alltagssituationen gezeigt, mit Kameraeinstellungen, die dem Zuschauer eine möglichst neutrale Perspektive auf das Geschehen ermöglichen sollen. Es soll suggeriert werden, dass nichts ausgelassen wird, nichts versteckt, nichts bearbeitet, nichts kommentiert. Jeanne symbolisiert daher nicht den Mythos „Frau“, sondern sie wird als Frau entmystifiziert und als Mensch dargestellt.

Abb. 1: Nie endende Reproduktionsarbeit am Beispiel des Kochens (© Sophie Färber)

Verlust des zeitlichen Gefüges

Mit einer Länge von 3h21 ist von Beginn an klar, dass Zeit und Dauer ein wichtiger Bestandteil des Films sind. Der erste Tag zeigt uns den minutiös strukturierten Alltag der Hauptfigur und etabliert diese Routine als Norm. Wir sehen sie häufig einzelne Aufgaben in Echtzeit erledigen, z.B. beim Kartoffeln schälen oder abwaschen. Für den Zuschauer mag sich dies überlang anfühlen, da man es eher gewohnt ist, dass diese Szenen konventionellerweise rausgeschnitten werden, da es sich dabei um sogenannte „dead time“ handelt.[15] Dies ist die Zeit, in der „nichts passiert“, was bereits vieles über die Wertschätzung von Hausarbeit aussagt, wenn diese immer rausgeschnitten bzw. im Film gar nicht erst thematisiert wird.[16] Jeannes häusliche Routine gerät erstmals aus der Bahn, als sie am zweiten Tag die Kartoffeln verkocht. Danach nehmen kleine Fehler, Vergesslichkeiten und Änderungen der Routine, die ihren mentalen Zersetzungsprozess verbildlichen, immer weiter zu und steigern sich bis zu einer Krise am dritten Tag, an dem sie ihren Freier tötet.[17] Doch wie kann es zu einem solchen Höhepunkt kommen? Das Ritual und vor allem der Ritualverlust sind auch für die Regisseurin Chantal Akerman äußerst persönlich, so spricht sie z.B. davon, mit ihrem Großvater in die Synagoge gegangen zu sein und dass ihr dieses Ritual gefallen hat, da es ihr ein Sicherheitsgefühl gab, genau zu wissen, was man tun soll: „Avec mon grand-père avait disparu le rituel. Avec le rituel, on savait ce qu’on devait faire. En tout cas, mon grand-père, il savait, et je le regardais faire, ou même je l’accompagnais dans une toute petite synagogue […] Tout ça, j’aimais. Et puis non seulement il a disparu du jour au lendemain, mon grand-père, mais tout le reste aussi“.[18] Jeannes Routine ist ein Zyklus von nie endender Arbeit, denn alles was sie tut, ob kochen, Geschirr spülen oder Betten machen, alles wird in weniger als 24 Stunden wieder zunichte gemacht und sie muss alles wieder von vorne beginnen. Mit Hausarbeit und Mutterschaft hat sie also zwei lebenslange, nie endende Aufgaben, die ihre gesamte Persönlichkeit und Selbstwahrnehmung definieren. Ihre Wohnung ist der einzige Autonomiebereich, der ihr als Frau in einer konservativen Gesellschaft zusteht, und als der dritte Freier ihr einen unerwünschten Orgasmus bereitet, nimmt dieser ihr dieses winzige Stückchen Kontrolle und Autonomie in ihrem penibel durchstrukturierten Leben.[19] Der Mord ihres Freiers kann somit als Schutzreaktion und/oder als „ein Ventil für die Repression, der Jeanne Dielman in ihrem häuslichen Alltag ausgesetzt ist“ interpretiert werden.[20] [21] Die letzten sieben Minuten des Films zeigen Jeanne am Esszimmertisch sitzen, ihre Hände noch immer voll Blut. Sie sitzt dort und denkt nach, doch ihre Gedanken sind undurchschaubar. Die distanzierte Art und Weise, wie sie während des gesamten Films dargestellt wurde, löst den Zuschauer von den Gedanken und Gefühlen der Figur. Der Zuschauer kann sich vermutlich nur schwerlich um Jeanne als Subjekt kümmern, da ihre Gedankengänge nach dem Mord sowie ihre Motivationen weitestgehend verschlossen bleiben. Wir können nur feststellen, dass es kein Gefühl von Euphorie, Emanzipation oder Katharsis gibt, wie es ein Spielfilmende normalerweise erwarten lässt.

- von Sophie Färber -

Dieser studentische Text ist im Rahmen des Romanistik-Seminars "Das BelgienNet III - das Filmland Belgien" im Wintersemester 2022/2023 entstanden. Hier finden Sie die französische Version dieses Artikels.

Anmerkungen:

[1] Vgl. SCHWEERS, Andrea, „Chantal Akerman“, in: FemBio – Frauen.Biograohieforschung (2019), URL: https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/chantal-akerman (aufgerufen 05.12.2022).

[2] Vgl. de Kuyper, Eric, „Leben lernen, das Leben lehren. Chantal Akerman zur Einführung“, in: Fabienne Liptay und Margrit Tröhler (Hrsg.), Chantal Akerman, München, 2017, S. 8.

[3] Vgl. Klippel, Heike, „Organisierte Zeit. Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles, Zeit und Hausarbeit“, in: Heike Klippel (Hrsg.), Zeit ohne Ende: Essays über Zeit, Frauen und Kino, Frankfurt am Main, 2009, S. 156.

[4] Vgl. ebd., S. 162.

[5] Ebd., S. 153.

[6] Ebd.

[7] Vgl. SCHWEERS, Chantal Akerman.

[8] Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles, 00:55:00-00:58:14.

[9] o.A., „Akerman, Chantal“, in: Munzinger Online/Personen - Internationales Biographisches Archiv (02.06.2015, letztes Update KW 41/2022), URL: http://www.munzinger.de/document/00000019679 (aufgerufen 05.12.2022).

[10] Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles, 00:06:12 – 00:10:38.

[11] Vgl. KUHN, Eva, „Chantal Akerman. Lecture von Eva Kuhn zu JEANNE DIELMAN“, in: Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, (13.06.2019), URL: https://www.dff.film/video/lecture-von-eva-kuhn/ (aufgerufen am 20.12.2023).

[12] Vgl. ebd.

[13] Vgl. ebd.

[14] Vgl. ebd.

[15] Vgl. ROMNEY, Jonathan, „Chantal Akerman Obituary“, in: The Guardian (08.10.2015) URL: https://www.theguardian.com/film/2015/oct/08/chantal-akerman (aufgerufen 05.12.2022).

[16] Vgl. ebd.

[17] Vgl. Klippel, Organisierte Zeit, S. 146.

[18] AKERMAN, Chantal, Chantal Akerman. Autoportrait En Cinéaste, Paris, 2004, S. 24.

[19] Vgl. KUHN, „Chantal Akerman. Lecture von Eva Kuhn zu JEANNE DIELMAN“.

[20] Klippel, „Organisierte Zeit. Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles, Zeit und Hausarbeit“, S. 154.

[21] Jeannes Mordmotiv wird im Film nicht explizit erklärt, weshalb es verschiedene Interpretationsansätze (auch bei Klippel) gibt, die versuchen den Mord zu begründen.

Quellenverzeichnis

AKERMAN, Chantal, Chantal Akerman. Autoportrait En Cinéaste, Paris, 2004.

de Kuyper, Eric, „Leben lernen, das Leben lehren. Chantal Akerman zur Einführung“, in: Fabienne Liptay und Margrit Tröhler (Hrsg.), Chantal Akerman, München, 2017, S. 8-13.

Klippel, Heike, „Organisierte Zeit. Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles, Zeit und Hausarbeit“, in: Heike Klippel (Hrsg.), Zeit ohne Ende: Essays über Zeit, Frauen und Kino, Frankfurt am Main, 2009, S. 144-168.

ROMNEY, Jonathan, „Chantal Akerman Obituary“, in: The Guardian (08.10.2015), URL: https://www.theguardian.com/film/2015/oct/08/chantal-akerman (aufgerufen 05.12.2022).

SCHWEERS, Andrea, „Chantal Akerman“, in: FemBio – Frauen.Biograohieforschung (2019), URL: https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/chantal-akerman (aufgerufen 05.12.2022).

o.A., „Akerman, Chantal“, in: Munzinger Online/Personen - Internationales Biographisches Archiv (02.06.2015, letztes Update KW 41/2022), URL: http://www.munzinger.de/document/00000019679 (aufgerufen 05.12.2022).

Audiovisuelle Quellen

Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles (1975, Belgien/Frankreich), Regie: Chantal Akerman.

KUHN, Eva, „Chantal Akerman. Lecture von Eva Kuhn zu JEANNE DIELMAN“, in: Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, (13.06.2019), URL: https://www.dff.film/video/lecture-von-eva-kuhn/ (aufgerufen 20.12.2022).