New Beat: Die elektronische Musikszene in Belgien
Wenn man an elektronische Musik denkt, verbindet man mit ihr vermutlich zuerst die Länder, aus denen die erfolgreichen DJs der aktuellen Zeit stammen und deren Werke die internationalen Charts beherrschen, also zum Beispiel Deutschland und die USA, aber auch Frankreich. Belgien fällt in diesem Kontext häufig nicht sofort auf, dabei spielt das Land in der Entwicklung der elektronischen Musik eine wichtige Rolle.
Die Entwicklung der elektronischen Musik fand zu großen Teilen auch in Belgien statt. Das Land ist innerhalb der letzten Jahrzehnte sehr wichtig für die europäische Musikkultur geworden. Im Folgenden soll erörtert werden, wie Belgien zu dieser wichtigen Position kam. Mit der Entstehung eines eigenen Musikstils, des „New Beat“ Anfang der 1980er Jahre, trug Belgien zur Entwicklung der elektronischen Musikszene bei. Dazu gehörten auch kulturelle Entwicklungen wie die Entstehung von Diskotheken oder Musikveranstaltungen. Eine dieser Veranstaltungen, die heute zu den international bedeutsamsten und erfolgreichsten Großveranstaltungen im Bereich Musik zählt, ist das Festival „Tomorrowland“. Dieses lockt jährlich Tausende von Besuchern nach Belgien. Dass dieses Festival in Belgien, einem vergleichsweise kleinen europäischen Land, und nicht etwa in den USA stattfindet, wie einige andere wichtige Musikfestivals, zeigt einmal mehr die große Bedeutung, die elektronische Musik für Belgien hat. Dadurch spielt Belgien auch heute noch eine wichtige Rolle für die internationale elektronische Musikszene.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- New Beat als Markenzeichen Belgiens
- Das Ende des New Beat
- Elektronische Musikszene in Belgien heute
- Anmerkungen
- Quellenverzeichnis
Die Entstehung des New Beat als Markenzeichen Belgiens
Der Dokumentarfilm „The Sound of Belgium“, der unter der Regie von Jozef Devillé 2012 veröffentlicht wurde, beleuchtet die Entwicklung des New Beat als ausschließlich belgisches Phänomen. In dem Film kommen hauptsächlich belgische DJs und Musikproduzenten aus der Zeit des New Beat zu Wort, die rückblickend mit Stolz über diese Entwicklung in der Musikszene berichten. In den 1980er Jahren entsprach es dem Standard, mit der Technik, mit der Musik produziert wurde, zu experimentieren, neue Sounds entstehen zu lassen und neue Rhythmen zu finden, die die Menschen in den Diskotheken zum Tanzen animierten. Diese Form der Musik wird daher heute dem Zeitalter der Electronic Body Music, kurz EBM zugeschrieben. Innerhalb dieses Genres tat sich in Belgien ein weiteres namens New Beat auf: „Dieses unterschied sich musikalisch von EBM durch ein langsameres Tempo und einen poppigeren Charakter.“[1] Vor allem junge Belgier*innen stellten damit also etwas, so die Interviewten aus „The Sound of Belgium“, ,einzig und allein Belgisches‘ her, etwas, das es zuvor noch nicht gegeben habe, weshalb sie auch von der „rebellion par la dance-musique“[2] sprechen. Die Belgier*innen gaben sich nicht mehr mit dem EBM Amerikas zufrieden, sondern präferierten die im eigenen Land produzierte Musik.[3] New Beat als Musikrichtung wird von Musikjournalisten teilweise mit Acid-House in Verbindung gebracht, ein Musikphänomen, das etwa zeitgleich große Erfolge in Großbritannien feierte. Der belgische New Beat Produzent und DJ Maurice Engelen sagt im Interview mit Groove dazu, dass er zu diesem Zeitpunkt teilweise in London lebte und sowohl die Entwicklung von Acid-House als auch von New Beat miterlebt hat.[4] So sei Acid-House in keiner Weise Einfluss für New Beat gewesen:
Doch in Belgien scherte sich niemand darum, was gerade in England geschah. Wir hatten unsere eigene Szene, unsere eigenen Platten und unseren eigenen Stil, was das Visuelle betraf. (…) Neunzig Prozent der Musik, die in den Jahren 1988 und 1989 in belgischen Clubs gespielt wurde, kam aus dem eigenen Land. Es war wirklich lustig, dass plötzlich ausländische Journalisten nach Belgien kamen, um zu sehen, was bei uns passierte! (…) Wir arbeiteten zusammen, das war alles sehr kollegial. Die Szene war wie eine Nation unter einer Flagge. (…) Die Leute hatten ihre eigenen Codes, ihre eigene Mode, ihren eigenen Tanzstil. New Beat war ein Lifestyle.[5]
Wie die DJs in „The Sound of Belgium“ charakterisiert auch er den New Beat als musikalisches Phänomen, das nur der belgischen Kultur zugehörig sei und als Alleinstellungsmerkmal für die belgische Musikkultur gelten kann. Was den New Beat zu etwas solch Einzigartigem machte, war besonders der vergleichsweise noch präsentere Bass, die Wiederholungen[6] und die besonders langsamen Sequenzen zwischen 90 und höchstens 120bpm.[7] Doch der wichtigste Faktor scheint zu sein – und das wird nicht nur in „The Sound of Belgium“ mehrfach betont –, dass diese Musikrichtung einzig und allein der belgischen Musikkultur zugeschrieben werde.[8] Die DJs berichten positiv über den New Beat, es zeichnet sich ab, dass sie stolz darauf sind, dass sich dieser Stil in Belgien entwickelt habe und dass sie ihn zur belgischen Kultur zählen können. Folglich entwickelte sich bei diesen Künstler*innen die Idee vom New Beat als ,ureigenes belgisches Phänomen‘, das für sie noch immer einen großen Teil zur kulturellen belgischen Identität beitrage. Obwohl diese neue Art von Musik vor allem von jungen Menschen einen starken Zuspruch erhielt, wurde der New Beat nicht von Radiosendern oder ähnlichen Medien gespielt. Folglich mussten die Menschen für das Erleben des New Beat Diskotheken aufsuchen. Es entwickelte sich innerhalb der Gemeinschaft von DJs ein harter Konkurrenzkampf, sodass jede*r versuchte, Schallplatten mit neuen Arrangements zu bekommen, die sonst niemand außer ihnen spielen konnte. Der Markt wurde überhäuft mit den unterschiedlichsten Tracks von ebenso unterschiedlichen Produzenten, denn die Produktion eines New Beat stellte sich als so unkompliziert dar, dass jede*r Laie ihn mit Hilfe seiner Musikanlage herstellen konnte.[9] Infolgedessen lag der Fokus letztendlich eher auf der Quantität als auf der Qualität der Musik und der New Beat wurde als kommerzielles Mittel genutzt.[10] Das wurde für den Musikstil deshalb zu einem Problem, da der New Beat so nicht mehr einzigartige und zuvor nicht dagewesene Elemente hervorbrachte. Außerdem galt der New Beat durch die fortschreitende Kommerzialisierung nicht mehr als angesagte Nische, sondern als „Mainstream“ und wurde dadurch weniger beliebt.
Der aus Paris stammende DJ „DJ Little Nemo“, der seit Beginn der 1990er Jahre aktiv ist, stellt in seiner Analyse des New Beat als wichtigste Künstler besonders die Gruppe Telex mit dem Song „Moskow Diskow“ und Front 242 mit „Controversy Between“ heraus. Diese waren besonders in den Anfängen des New Beat sehr einflussreich. Mitte der 80er Jahre wurde in der sogenannten schwarzen Welle, der Hochphase des New Beat, „Our Darkness“ von Anne Clark herausgebracht, doch als am eindringlichsten charakterisiert er The Confetti’s mit „The Sound of C“.[11]
Das Ende des New Beat
Schließlich aber kam es zum sogenannten „Tod“[12] des New Beat aus mehrerlei Gründen, die der DJ Little Nemo beschreibt: Zum einen galt der New Beat, wie zuvor bereits erwähnt, als auf das Entwicklungs- und Produktionsland Belgien beschränkt.[13] Generell erschien es unter Produzent*innen schwierig, die 120bpm-Marke bei der Entwicklung neuer Songs nicht zu überschreiten. Wie bereits erwähnt, stand die Quantität schließlich vor der Qualität, was den New Beat an Wert verlieren ließ.[14] Nicht zuletzt nahm das Image des New Beat auch dadurch ab, dass seine Produzent*innen fast ausschließlich aus DJs und Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen bestanden.[15]
Letztendlich kam es zu einer „Transformation von EBM und New Beat zu europäischen Techno-Varianten wie Trance [,welche] sich anschließend in Belgien und vor allem in der Szene rund um den Frankfurter Klub Dorian Gray feststellen [lassen].“[16]
Nicht nur durch das immer negativer werdende Image des New Beat durch die fließbandartige Produktion von neuen Songs,[17] sondern auch durch Veränderungen in der Musikszene im Allgemeinen kam es zum „Tod“ der Musikrichtung. Während der Entstehung des New Beat entstanden auch zahlreiche Clubs und Diskotheken, wie zum Beispiel „Fuse“, auch „The Techno Temple of Belgium“[18] genannt, oder „Boccaccio“.[19] Die Clubs, die zu dieser Zeit keine Schließungszeiten hatten, waren immer gut besucht, teilweise feierten die Menschen tagelang durchgehend zum Sound elektronischer Musik.[20] Aufgrund dessen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk die neue Musikrichtung ignorierte und sich sogar weigerte sie zu spielen, berichteten auch die belgischen Medien verstärkt negativ über New Beat.[21]
Vor allem die Clubs, die einen großen Teil zum Erfolg des belgischen New Beat beitrugen, waren auch beteiligt am „Tod“ dieses Stils. Am Zenit des Erfolgs dieser Musikrichtung mussten viele Clubs in Belgien geschlossen werden, so zum Beispiel auch das „Boccaccio“.[22] Der frühere belgische New Beat DJ Ro Maron schildert diese Zeit so:
Das war keine schöne Zeit. Weil das Schließen der Discotheken auch zum Ende der Musik führte. Das beeinflusste sich gegenseitig. Sprach man von New Beat, wurden irgendwann in den Medien im gleichen Atemzug immer auch Polizei, Razzia und Drogen genannt. Aber ehrlich, es waren teils wirklich viele Drogen im Umlauf. Man fand in den Clubs kiloweise Speed und andere Substanzen.[23]
Da das „Boccaccio“ in Destelbergen außerhalb der größeren Stadt Gent lag, und auch viele andere Clubs eher im ländlichen Raum waren, kam es immer wieder zu Konflikten zwischen den Dorfbewohner*innen und den Jugendlichen, die am Wochenende zum Feiern in die Dörfer kamen. Diese Konflikte wurden schnell politisiert und in der Presse thematisiert.[24] Durch die Schließungen der Clubs verschlechterte sich insgesamt die Stimmung in der Szene und man hatte keine Orte mehr, an denen man die Musik hören konnte.[25] Ro Maron erklärt sich die kurze Existenz des New Beat damit, dass es durch die Kommerzialisierung „albern“[26] wurde und nennt New Beat einen „Hype“.[27] Er klassifiziert diesen Musikstil also als einen, der in sehr kurzer Zeit zwar extrem viele Menschen begeisterte, aber auch kurzlebig war. Trotzdem glaubt er, dass New Beat etwas bewirken konnte, da auch heute noch Elemente des New Beat in aktuellen Musikstücken zu finden sind.[28]
Elektronische Musikszene in Belgien heute
Obwohl der New Beat insgesamt nur zwei Jahre andauerte,[29] ist die elektronische Musikszene auch heute noch lebendig. Vor allem in Brüssel gibt es noch immer viele Künstler, die elektronische Musik machen.[30] Die lokale Szene ist noch immer lebendig und divers, es finden viele Abendveranstaltungen statt und immer wieder bilden sich neue Projekte oder kleinere Labels.[31] Man spricht von Brüssel in diesem Zusammenhang als „la capitale la plus branchée de l’Europe“.[32] Trotzdem ist diese Szene in den öffentlich-rechtlichen Medien kaum präsent, obwohl die junge Bevölkerung Brüssels sie in den Bars und Nachtclubs stark unterstützt.[33] Die Entwicklung wird heute durch Events vorangetrieben, zum Beispiel durch Festivals oder auch den „Bruxelles électronique marathon“, eine Veranstaltung, bei der über mehrere Tage Konzerte, Konferenzen und Workshops angeboten werden.[34] Die Veranstalter*innen wollen damit nicht nur das Genre der elektronischen Musik repräsentieren, sondern auch beständige vorhandene Vorurteile aus der Zeit des New Beat gegenüber dem Genre beseitigen.[35] Dank Veranstaltungen wie diesen erfährt die elektronische Musik Belgiens einen neuen Aufschwung.[36]
Obwohl der Erfolg des New Beat vorbei ist, ist Belgien heute nach wie vor ein wichtiger Standort für elektronische Musik. Jährlich findet in dem belgischen Ort Boom das Festival „Tomorrowland“ statt, das in der Presse als „das beste Dance-Festival der Welt“[37] gilt. Dort feiern jährlich etwa 180.000 Menschen zusammen in friedlicher Atmosphäre zu allen Arten von elektronischer Musik. Mit House, Techno sowie EDM und Trance sind auf dem „Tomorrowland“ viele Facetten der elektronischen Musik vertreten.[38] Daher schreibt die Presse auch heute über das Land: „On le sait depuis longtemps : pour faire la fête, la vraie, jusqu’au bout de la nuit et même une partie de la journée, la Belgique est un pays béni.“[39]
- von Jule Maria Aufderbeck und Leonie Machinia -
Dieser studentische Text ist im Rahmen des Romanistik-Seminars "Das BelgienNet - medienpraktische Perspektiven auf die Kultur Belgiens" im Sommersemester 2021 entstanden.
Anmerkungen:
[1] Hecke, Thomas u. Kleiner, Marcus S. (Hrsg.), Handbuch Popkultur. Stuttgart: Metzler 2017, S. 103.
[2] Devillé, Jozef, The Sound of Belgium. 2012.
[3] Vgl. Devillé, Jozef; 2012.
[4] Vgl. Klein, Holger, Zeitgeschichten: New Beat. Groove 2014.
[5] Klein, 2014.
[6] Vgl. Devillé, Jozef; 2012.
[7] Vgl. DJ Little Nemo - Histoires Electronique: La New Beat: le phénomène electro belge ! 2020.
[8] Vgl. Devillé, Jozef; 2012.
[9] Vgl. Devillé, Jozef; 2012.
[10] Vgl. DJ Little Nemo - Histoires Electronique ; 2020.
[11] Vgl. DJ Little Nemo - Histoires Electronique ; 2020.
[12] Devillé, Jozef; 2012.
[13] Vgl. DJ Little Nemo - Histoires Electronique ; 2020.
[14] Vgl. DJ Little Nemo - Histoires Electronique ; 2020.
[15] Vgl. DJ Little Nemo - Histoires Electronique ; 2020.
[16] Hecke, Thomas u. Kleiner, Marcus S. (Hrsg.), Handbuch Popkultur, 103.
[17] Vgl. Kim, Ji-Hun, Herrmann, Thaddeus, „Nach dem High musste der Absturz kommen“ – Die belgische New-Beat-Legende Ro Maron im Interview. Das Filter 2015.
[18] Red Bull Music, Fuse. The History of Belgiums Premier Techno Club. 2018.
[19] Kim; Herrmann 2015.
[20] Red Bull Music 2018.
[21] Vgl. Klein, 2014.
[22] Kim, Herrmann 2015.
[23] Kim, Herrmann 2015.
[24] Vgl. Kim, Herrmann 2015.
[25] Vgl. Kim, Herrmann 2015.
[26] Kim, Herrmann 2015.
[27] Kim, Herrmann 2015.
[28] Vgl. Kim, Herrmann 2015.
[29] Vgl. Klein 2014.
[30] Vgl. Mammouth Média, La musique électronique à Bruxelles. 2016.
[31] Vgl. Mammouth Média 2016.
[32] Mammouth Média 2016.
[33] Vgl. Mammouth Média 2016.
[34] Vgl. Mammouth Média 2016.
[35] Vgl. Mammouth Média 2016.
[36] Vgl. Mammouth Média 2016.
[37] Kreienbrink, Ingmar, Wie Tomorrowland 2015 die Festival-Fans fasziniert. Der Westen 2015.
[38] Vgl. Kreienbrink 2015.
[39] Constant, Alain, Au royaume de la new beat. Le Monde 2014.
Quellenverzeichnis
CONSTANT, Alain, Au royaume de la new beat. Le Monde 2014. URL: https://www.lemonde.fr/televisions-radio/article/2014/11/21/au-royaume-de-la-new-beat_4527553_1655027.html (27.05.2021)
DEVILLÉ, Jozef, The Sound of Belgium. 2012. URL: https://www.youtube.com/watch?v=xqF0YTw1ISE&t=183s (27.05.2021)
DJ Little Nemo - Histoires Electronique, La New Beat: le phénomène electro belge ! 2020. URL: https://www.youtube.com/watch?v=QMHgTJw9Sgg&t=1s (27.05.2021)
HECKE, Thomas und KLEINER, Marcus S. (Hrsg.), Handbuch Popkultur, Stuttgart, 2017.
KIM, Ji-Hun und HERRMANN, Thaddeus, „Nach dem High musste der Absturz kommen“ – Die belgische New-Beat-Legende Ro Maron im Interview, Das Filter, 2015. URL: http://dasfilter.com/sounds/nach-dem-high-musste-der-absturz-kommen-die-belgische-new-beat-legende-ro-maron-im-interview (27.05.2021)
KREIENBRINK, Ingmar, Wie Tomorrowland 2015 die Festival-Fans fasziniert. Der Westen 2015. URL: https://www.derwesten.de/kultur/musik/festivals/tomorrowland/wie-tomorrowland-2015-die-festival-fans-fasziniert-id10924308.html (letztmalig abgerufen am 27.05.2021)
Mammouth Média, La musique électronique à Bruxelles. 2016. URL: https://www.youtube.com/watch?v=HlideGJpnZM&t=1s (27.05.2021)
Red Bull Music, Fuse. The History of Belgiums Premier Techno Club. 2018. URL: https://www.youtube.com/watch?v=Yl1RzG5Lxns&t=1586s (27.05.2021)