Abstract

Die Comicbuchreihe „Tim und Struppi“ vom belgischen Zeichner Hergé gilt als eine der erfolgreichsten und einflussreichsten Comics im europäischen Raum. Allein Hergés Zeichenstil, welcher als „ligne claire“ bezeichnet wird, hatte einen großen Einfluss auf die Comickultur.[1] Den größten Triumph mit Tim und Struppi feierte Hergé zwar in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit, doch dieser Analysetext soll von dem kontroversen Beginn der Reihe handeln. Bis heute sind vor allem die ersten vier Teile von Tim und Struppi aufgrund feindlicher und rassistischer Inhalte äußerst umstritten.

Zunächst wird der Werdegang des Autors beschrieben, um die Inspirationen und Einflüsse widerzuspiegeln, welche zu den diskutablen Inhalten der ersten Geschichten führten. Anschließend wird die Phase der problematischen Comics geschildert. Zuletzt wird veranschaulicht, wie Hergé seine Kunst und Inhalte änderte, um reflektierter, und ein weltoffeneres Vorbild zu sein.

Inhaltsverzeichnis

Der Werdegang Hergés

Hergé, dessen echter Name Georges Prosper Remi ist, wurde am 22. Mai 1907 in Etterbeek, einem Ort in der Nähe von Brüssel, geboren und wuchs in einem stark katholischen und konservativ geprägten Umfeld auf. Seine Kindheit beschrieb Hergé als ereignisarm, doch in seiner Jugend wurde er selbst aktiver.[2] Er trat der „Association des Scouts Baden-Powell de Belgique“, einem katholischen Pfadfinderverband, bei. Dort bestritt er viele Reisen in Sommerlagern, dessen Abenteuercharakter viel Einfluss auf seine späteren Comics hatten: „With the scouts, he travelled to summer camps in Italy, Switzerland, Austria and Spain, and in the summer of 1923 his troop hiked 200 miles across the Pyrenees“.[3]

Sein erster Comic erschien 1924 in dem Pfadfindermagazin „Le Boy-Scout Belge“. Hergé, der damals gerade einmal 16 Jahre alt war, benutzte zu dieser Zeit noch Untertitel, wie es für europäische Comics üblich war. Zwei Jahre später schloss er die Realschule ab und arbeitete fortan bei einer Zeitung namens „Le Vingtième Siècle“, die hauptsächlich einen klerikalen und sehr konservativen Leserkreis hatte. Zunächst hatte Hergé lediglich eine Verwaltungsstelle bei der Zeitung, doch gegen Ende der 1920er Jahre wurde ihm die Verantwortung für die Kinderbeilage der Zeitung namens „Le Petit Vingtième“ übertragen. Fortan illustrierte er Erzählungen und fügte Sprechblasen hinzu, ein Phänomen, welches primär in amerikanischen Comics zu finden war. So konnte der junge Hergé intern überzeugen und der Direktor der Zeitung erkannte sein Talent.

Der angesprochene Direktor war Norbert Wallez, welcher ebenfalls als katholischer Priester tätig war. Er hatte die Zeitung 1924 übernommen und schlug seither einen radikalen Kurs ein, indem er Publikationen der katholischen Zeitung nutzte, um seine politischen Meinungen zu äußern. Da Wallez der Vorgesetzte von Hergé war, hatte er einen starken Einfluss auf ihn. Somit bestimmte der Direktor anfänglich die Orte und teilweise auch die Inhalte der ersten Abenteuer von Tim und Struppi.[4]

Die kontroversen Comics

Das erste Comicheft, welches 1929 in „Le Petit Vingtième“ erschien, spielte daher in der Sowjetunion und spiegelte ein antikommunistisches Bild wider: „C’est dans ce climat d’allergie brutale au communisme que Wallez priera un jour Hergé d’envoyer un certain Tintin au pays des Soviets… Mais pour l’heure, Hergé n’a que faire de la bande dessinée et des idées politiques de son directeur.“[5]. Ein weiterer Grund für die antibolschewistischen Inhalte des ersten Comics war Hergés Mangel an Quellen. Bei dem Bild, welches er von der Sowjetunion portraitierte, berief er sich fast lediglich auf das Buch „Moscou sans Voiles“ von Joseph Douillet, welches antikommunistisch ausgerichtet war: „Hergé suit l’itinéraire indiqué par le seul „guide de voyage“ dont il dispose, le Moscou sans Voiles de Joseph Douillet, ancien consul de Belgique en Russie […] que l’abbé Wallez n’a pas manqué de lui mettre sous les yeux“.[6]

Die opportunistische Ader Hergés zeigte sich ebenfalls in dem zweiten Abenteuer von Tim und Struppi. Hergé wollte den fiktiven Reporter nach Amerika reisen lassen, doch ließ sich dies von Wallez ausreden: „l’abbé a détourné Hergé de l’Amerique, […] c’est au Congo, comme le voulait son directeur, qu’Hergé va envoyer son personnage“.[7] Wallez wollte seine politischen Meinungen erneut zu seiner Leserschaft durchbringen. In diesem Fall handelte es sich um die rassistische Sichtweise auf Kongoles*innen und die Verherrlichung des Kolonialismus (Kongo war seit 1885 eine belgische Kolonie): „Der Rassismus im Beispiel von Hergés Tim im Kongo wurde immer wieder als belanglose Jugendsünde verharmlost, obwohl er die belgisch-kolonialistische Sicht auf ein Afrika bzw. einen Kongo voller fauler und dummer Schwarzer relativ ungefiltert verbreitet. Der Autor gestand nach dem Zweiten Weltkrieg, Afrikaner_innen im paternalistischen Geist des damaligen Belgien gezeichnet zu haben“.[8] Die Anweisungen seines Chefs setzte Hergé vielfältig um. Einerseits durch die rassistische Repräsentation der Einheimischen,[9] andererseits durch deren Sprache, welche damals als „petit-nègre“ bezeichnet wurde, oder durch fehlende Kritik an der belgischen Herrschaft im Kongo.

Auch die nächsten beiden Comics in der Reihe stellten sich als problematisch heraus, jedoch weniger als die ersten beiden Bände. Dennoch präsentierte Hergé erneut Vorurteile, die zur Entstehungszeit verbreitet waren. Beispielsweise im 3. Band „Tim in Amerika“, in dem die indigenen Völker als nichtsahnend und leichtgläubig portraitiert werden. 1933 wurde Wallez als Direktor der Zeitung gekündigt und Hergé hatte in der Folge keinen ähnlichen Vorgesetzten, welcher ihn als Mittel nutzte, um seine politischen Meinungen zu äußern.

Eine bedeutende Begegnung

Einen Wendepunkt in den fremdenfeindlichen Inhalten stellt das 5. Abenteuer „Der Blaue Lotos“ dar. Dieser Comic spielt sich in China ab, was sich bereits am Ende des 4. Bandes „Die Zigarren des Pharaos“ angekündigte. Daraufhin informierte Hergé sich auf verschiedene Weisen über das Land. Einerseits las er erneut Bücher, andererseits wandte er sich an Pater Gossé, den Kaplan der chinesischen Studenten an der katholischen Universität Löwen[10]. Dieser setzte ihn mit verschiedenen Studenten in Kontakt, welche ihm bei seinen Recherchen helfen sollten. Einer dieser Personen war der Bildhauerstudent Zhang Chongren, der seit 1931 in Brüssel studierte. Die beiden freundeten sich schnell an, obwohl Chongren nicht viel über Comics wusste. Er half Hergé dabei, sein nächstes Comicheft so realitätsnah wie möglich darzustellen, indem er ihm viel über die chinesische Kultur, Kunst und Geschichte lehrte. So bemerkte Hergé, dass auch „Le Vingtième Siècle“ falsch und oberflächlich über Geschehnisse in China berichtet hatte,[11] und hinterfragte die Praxis des Kolonialismus, nachdem Chongren ihm von der japanischen Besetzung Chinas berichtete.

Diese Weiterschulung führte dazu, dass Hergé auch in Zukunft versuchte, ein akkurates Bild der Kulturen in seinen Comics zu zeichnen und ausreichend zu recherchieren. Als Zeichen der Erkenntnis integrierte Hergé einen Charakter namens Chang in „Der Blaue Lotos“, der sich mit Tim anfreundet.

Zusammenfassung

Es bleibt festzuhalten, dass Hergé am Anfang seiner Karriere opportunistisch handelte und so damalige Klischees sowie rassistische Werte der einstigen Zeit in seine Kunst aufnahm, um weiter bei der Zeitung „Le Vingtième Siècle“ zu arbeiten. Da die ersten Abenteuer von Tim und Struppi in der Kinderbeilage „Le Petit Vingtième“ erschienen, hatten diese Werke seinerzeit beispielsweise einen Einfluss auf die katholischen geprägten Kinder und Jugendlichen, welche diese Zeitung lasen. Unbestritten ist dabei der Einfluss seines Vorgesetzten Norbert Wallez, welcher ihm direkte Befehle über einige Inhalte der Comics gab. Bis heute steht zur Debatte, ob der junge Hergé lediglich nicht den Mut hatte, sich den Anordnungen seines Chefs zu widersetzen, ob er es nicht besser wusste oder trotz besseren Wissens seinen Arbeitsauftrag erfüllte.

- von Frédéric Margout -

Dieser studentische Text ist im Rahmen des Romanistik-Seminars "Das BelgienNet III - das Filmland Belgien" im Wintersemester 2022/2023 entstanden. Hier finden Sie die französische Version dieses Artikels.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Barahouie, Haniyeh, „Entre bande dessinée et jeu vidéo: Le Secret de la Licorne d’Hergé“, in: alternative francophone, 2/7, 2020, S. 58. Hier finden Sie ein Beispiel der von Hergé im „ligne claire“-Stil gezeichneten Figuren von Tim und Struppi.

[2] Vgl. PEETERS, Benoît, Hergé, son of Tintin, Baltimore, 2012, S. 5.

[3] LYE, Sian, The Real Hergé: The Inspiration Behind Tintin. Yorkshire, 2020, S.10.

[4] GODDIN, Philippe, Hergé: lignes de vie. Brüssel, 2007, S.143.

[5] Ebd., S.112-113.

[6] Ebd., S.124-125.

[7] Ebd., S.143.

[8] Zehnle, Stephanie, „Der kolonialistische Comic. Die Genese des ‚Leopardenmannes‘ und die Verbildlichung kolonialer Ängste“, in: Closure. Kieler e-Journal für Comicforschung, 2, 2015, S. 95

[9] Hier finden Sie ein entsprechendes Beispiel aus dem Comic „Tim im Kongo“.

[10] Vgl. GODDIN, Hergé, S.201.

[11] Vgl. ebd., S.203.

Quellenverzeichnis

Barahouie, Haniyeh, „Entre bande dessinée et jeu vidéo: Le Secret de la Licorne d’Hergé“, in: alternative francophone, 2/7, 2020, 55–65.

GODDIN, Philippe, Hergé: lignes de vie. Brüssel, 2007.

LYE, Sian, The Real Hergé: The Inspiration Behind Tintin, Yorkshire, 2020.

PEETERS, Benoît, Hergé, son of Tintin, Baltimore, 2012.

Zehnle, Stephanie, „Der kolonialistische Comic. Die Genese des ‚Leopardenmannes‘ und die Verbildlichung kolonialer Ängste“, in: Closure. Kieler e-Journal für Comicforschung, 2, 2015, S. 90–116.