Abstract
Dieser Artikel beschreibt eine mögliche psychoanalytische Deutung des Films Toto Le Héros des belgischen Regisseurs Jacon Van Dormael: Die achronologische Zeitstruktur und irreale traumhafte Sequenzen verweisen auf ein verdrängtes Trauma des Protagonisten Toto, dessen unerfüllbare Wünsche sich in surrealen Fantasien manifestieren. Analysiert wird hier auch die kinematographische Gestaltung in Hinblick auf die Bildkomposition und Kameraführung. Schließlich wird Van Dormaels Position gegenüber den Surrealisten verortet.
Inhaltsverzeichnis
- Jaco van Dormaels Film Toto Le Héros und der psychoanalytische Blick
- Das rote Auto: Objektbegehren nach Freud
- „La pendule fait tic-tac-tic-tic“: Trauma und Hypnose
- Der Kinofilm als Traum mit offenen Augen
- Ein psychoanalytisches Porträt und Kritik an Hollywood
- Anmerkungen
- Quellenverzeichnis
Jaco van Dormaels Film Toto Le Héros und der psychoanalytische Blick
Diese 1991 erschienene Tragikomödie des belgischen Regisseurs Jaco von Dormael handelt von den Lebenserinnerungen Totos, der im Seniorenheim lebt und denkt, als Kind im Krankenhaus verwechselt worden zu sein.[1] Hierbei weisen, so die These, sowohl die achronologische Zeitgestaltung als auch traumartige Passagen Ähnlichkeiten mit der surrealistischen Kunstbewegung auf: Dieser Stil charakterisiert sich u.a. dadurch, dass Schriftsteller*innen, Maler*innen und Regisseur*innen unter dem Einfluss des Ersten Weltkriegs[2] und inspiriert von Sigmund Freuds „Die Traumdeutung“[3] das menschliche Unterbewusstsein darzustellen versuchten.[4]
Inwiefern lässt sich daher Van Dormaels Film mithilfe der „Traumdeutung“ interpretieren und in welcher Form manifestieren sich darin adäquate surrealistische Stilmittel? Um diese Fragen zu beantworten, werden im Folgenden einige Schlüsselszenen einer entsprechenden Analyse unterzogen. Darüber hinaus soll die Frage diskutiert werden, ob sich Van Dormael als ein Nachfolger oder als ein Kritiker der surrealistischen Bewegung sehen lässt.
Das rote Auto: Objektbegehren nach Freud
Zunächst bildet Totos neidischer Blick über den Nachbarszaun eine für sein Identitätsproblem unerlässliche Szene: Nachdem er beobachtet hat, wie der kleine Alfred ein rotes Spielzeugauto zum Geburtstag erhalten hat, überquert Toto die Grundstücksgrenze und erzählt aus Überzeugung von seinen Gedanken, man habe die beiden nach ihrer Geburt vertauscht (00:09:36-00:10:40). Durch die auffällige Farbe des Autos scheint es, als ob der Regisseur etwas signalisieren möchte. Außerdem wird die Farbe durch die knallroten Bonbons wiederholt, die in der anfänglichen Mordszene ebenso wie in manchen dunklen Erinnerungen Totos an den Vater fast zu leuchten scheinen (00:01:42 und 00:08:29-00:08:55).
Zudem finden sich direkt vor beiden Szenen Anspielungen auf das menschliche Träumen: Toto wird dort als Träumender mit offenen Augen gezeigt. Folglich erscheint eine Analyse mit der „Traumdeutung“ möglich. Freud zufolge manifestieren sich in Träumen unterbewusste, verdrängte Sehnsüchte[5]; in diesem Kontext würden triebhafte Wünsche auf ein konkretes Objekt projiziert. Das rote Auto stellt gemäß dieser Theorie ein Objekt des Begehrens dar, das Toto jedoch nicht haben kann. Außerdem könnten gemäß Freud bei immenser Frustration Sehnsüchte in Aggression umschlagen.[6] Diese Aggressionen zeigen sich zum einen indirekt bei Toto, indem er mit seiner Erzählung die heile Welt des Nachbarsjungen zerstören möchte, und zum anderen in der gewalttätigen Reaktion Alfreds. Des Weiteren möchte Toto bis ins hohe Alter hinein Alfred umbringen, da er ihn für ein gestohlenes Leben und den Tod von Alice verantwortlich macht. Nicht zuletzt weist die rote Farbe der Objekte darauf hin, dass sich seine Sehnsüchte in Aggressionen verwandelt haben. Diese Objekt- und Triebtheorie, die von den ersten Surrealisten aufgegriffen wurde[7], wird daher auch in Toto Le Héros in Szene gesetzt.
Vor allem in der Nachbarsszene wird bezeichnenderweise auch die Bedeutung des voyeuristischen Sehens mitreflektiert: Wenn der kleine Junge seine Nachbarn nicht beobachtet hätte, wäre er von dem folgenden inneren Identitätskonflikt vielleicht verschont geblieben. Der Blick über den Zaun gestaltet sich als ebenso schwierig wie dessen körperliches Übertreten, genauer gesagt als Grenzüberschreitung im psychoanalytischen Sinne.
Überdies wirkt der Kontrast zwischen Helligkeit und Dunkelheit surrealistisch, da dem auffallend gut belichteten Idyll der früheren Kindheitserinnerungen dunkle Nahaufnahmen des träumenden Toto gegenüber stehen (z.B. 00:06:02 ff., 00:09:07 ff. und 00:10:58 ff.). Dies verbildlicht die von den Surrealisten immer wieder hervorgehobene Differenz zwischen dem Hell-Bewussten und dem Dunkel-Unbewussten.[8] Deshalb entpuppt sich die Idee von der Verwechslung aus der Sicht des aufmerksamen, geschulten Zuschauers als Wunschvorstellung im Sinne Freuds, die von einer Sehnsucht nach dem materiellen Reichtum des Nachbarn angetrieben wird. Als versteckter Hinweis darauf lässt eine Binnenkadrierung die kleinen Babys zu Beginn eingeschlossen wirken[9], was Totos scheinbare Erinnerungen implizit als Träumereien charakterisiert.
„La pendule fait tic-tac-tic-tic“: Trauma und Hypnose
Ergänzend stellt der zweite essentielle Wendepunkt der kriegsbedingte Tod des Vaters dar (00:12:43-00:17:19). Die Bildausleuchtung veranschaulicht deutlich eine Metamorphose von einer heil-bunten Kinderwelt ins Dunkel-Problematische. Als Hinweis auf einen Auslöser schenkt der Vater dem kleinen Jungen im letzten Gespräch seine Armbanduhr (00:14:43-00:15:23). Dies kann als Symbol für die Ordnung der Zeit gedeutet werden und verweist auf eine aus Sicht des Jungen strukturgebende Bedeutung des Vaters. Damit einhergehend vermittelt dessen gesungenes „La pendule fait tic tac tic tic […]“ (00:10:58-00:11:44) auditiv zeitliches Geordnetsein in einer als heil wahrgenommenen Familie, was die sich im Takt wiegenden Tulpen im Vorgarten surrealistisch unterstreichen.
Der im Film anhaltende Kontrast zwischen Zeitordnung und surrealer Achronie verarbeitet daher die in Freuds Traumdeutung eingeschriebene Bedeutung der Eltern für das Internalisieren sozialer Regeln in der Persönlichkeitsstruktur, denn ihm zufolge würden im Menschen angelegte triebhafte Wünsche durch Erziehung in einem Über-Ich so reguliert, dass das Kind nicht in einen Konflikt mit seiner Umwelt geraten könne.[10] Durch den väterlichen Tod zerbricht die heile Kinderwelt jedoch, was möglicherweise anhand eines in den Erschütterungen der Kriegsflugzeuge zerbrechenden Glases (00:16:21 bis 00:16:23) versinnbildlicht wird. Den im Menschen angelegten Trieben steht demnach kein regulierendes Über-Ich bzw. vollständiges Ich mehr gegenüber.
Damit in Verbindung sei laut Freud das fehlende Urteilsvermögen, was Erinnerung und was Erfindung ist, charakteristisch für verdrängte Traumata: „Die Konsequenzen für das Ich sind tatsächlich grundlegend: Das spätere Ich, das dieses unlustvolle erste Erleben ‚erinnert‘, stellt eine falsche Verknüpfung her, eine falsche Behauptung auf.“[11]Weil mit dem Über-Ich auch die ordnende Zeitwahrnehmung wegfällt, verwandelt sich für Toto alles in Achronologie. Dies wird im Film für den Zuschauer zum ästhetischen Seherlebnis und akkumuliert sich optisch zu einer Vermischung von Erinnerungen und irrealen (Tag-)Traumsequenzen (wie z.B. in 01:16:19, als der verstorbene Vater und die ebenfalls umgekommene Schwester im Lastwagen musizieren), was Toto und analog den Zuschauer auf verdrängte, nicht reflektierte Traumata und unerfülltes Begehren aufmerksam macht.
Dazu passend erreicht in den positiven Kindheitserinnerungen die subjektive Kamera aus Sicht des (Klein-)Kindes eine große Empathie und Identifikation mit der titelgebenden Figur.[12] Dieselbe Wirkung erzielen die Nahaufnahmen des älteren, im Bett liegenden Toto (z.B. 00:02:40-00:02:54), als der Zuschauer durch das langsame Heranzoomen immer näher an sein scheinbar träumendes Gesicht geholt wird. Durch die Kameraführung wird der Zuschauer zum Psychologen, der ihm bei dem freien-assoziativen Erzählen von Erinnerungen und Träumen mitfühlend zuhört.
Der Kinofilm als Traum mit offenen Augen
Der Film demonstriert und reflektiert auch die besondere Eignung des Kinos für die surrealistische Darstellung menschlicher Träume: Schließlich können diese visuell überzeugend umgesetzt werden und erheben so das Filmische zum adäquaten Medium. Schließlich ermöglicht insbesondere ein derart zeitlicher, der Chronologie enthobener Film eine Darstellung von Bildakkumulationen, wie sie gemäß Freud unbewusstes Träumen kennzeichnen: Punktuelle Häufungen bedeutungsschwerer Abbildungen, die wie mit dem Zeigestock auf verdrängte psychologische Problemlagen hinweisen[13], können nun einmal cineastisch treffend ästhetisiert werden, da sie die ‚(Traum-)Bilder im Kopf‘ zur Anschauung bringen.
Zudem ähnele filmpsychologischen Erkenntnissen zufolge der dunkle Kinosaal selbst dem Zustand des Träumens, weil gewissermaßen Bilder auf die Leinwand geschlossener Augen projiziert würden.[14] Dazu passend versetzt der dunkle Hintergrund zu Anfang (ab 00:00:01) den Zuschauer in einen Zustand, als würde er hypnotisiert, was auf die Illusion einer Psychoanalyse (wie auch hypnotische Selbstexperimente der Surrealisten[15]) hinweist.
Schließlich verweist der Schuss zum Filmbeginn, der das Kameraglas zu zerstören scheint (00:01:40), medienreflexiv auf ein Durchbrechen der Wand zwischen Film und Zuschauer hin, was neben Freuds Theorie vom Todestriebs auf ein emotional involvierendes Kinoerlebnis hindeutet.
Ein psychoanalytisches Porträt und Kritik an Hollywood
Insgesamt porträtiert Toto Le Héros differenziert und surrealistisch das Seelenleben eines traumatisierten Mannes: Ein nicht realisierter, verdrängter Wunsch nach einem geordneten, heilen Leben manifestiert sich in achronologischen Traumbildern, die mit Lebenserinnerungen vermischt werden. Auch wird die Verletzung anhand eines heldenhaften Fantasie-Ichs erkennbar, das die verlorene Ordnung wiederherstellen möchte.
Ergänzend reflektiert diese Identitätsverdopplung auch das Kino als Medium, da Heldenfantasien in der sogenannten „Traumfabrik“ Hollywood häufig inszeniert werden. Daher könnte der Film auch eine Kritik an unrealistischen Heldenepen andeuten.
Nicht zuletzt codiert Toto Le Héros auch eine kritische Reflexion seiner surrealistischen Wurzeln: Diese war schließlich eine durch den Ersten Weltkrieg traumatisierte Generation, sodass die surrealistische Kunst als Ausdruck von seelischen Verletzungen gelesen werden kann. Deshalb eröffnet Jaco Van Dormaels subtiler Film einige psychoanalytische und surrealistische Deutungsperspektiven, die untereinander verbunden sind.
- von Sabrina Saskia Jordt -
Dieser studentische Text ist im Rahmen des Romanistik-Seminars "Das BelgienNet III - das Filmland Belgien" im Wintersemester 2022/2023 entstanden. Hier finden Sie die französische Version dieses Artikels.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Töteberg, Michael (Hrsg.), Metzler-Film-Lexikon, Stuttgart [u.a.]: Metzler 2005, S. 643.
[2] Vgl. SCHNEEDE, Uwe M., Die Kunst des Surrealismus: Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, München: Beck 2006, S. 11-12.
[3] Vgl. Lommel, Michael (Hrsg.), Surrealismus und Film: von Fellini bis Lynch, Bielefeld: transcript 2008.
[4] Vgl. ebd., S. 7-8.
[5] Vgl. ZENATY, Gerhard: Sigmund Freud lesen: Eine zeitgemäße Re-Lektüre. Bielefeld : transcript Verlag 2022, S. 43-44.
[6] Vgl. ebd., S. 44-45.
[7] Vgl. SCHNEEDE, Die Kunst des Surrealismus, S. 156:
[8] Vgl. BIRO, Adam, Dictionnaire général du surréalisme et de ses environs, Paris: Pr. Univ. de France [u.a.] 1982, S. 93-94.
[9] Vgl. HAMBURGER, Andreas, Filmpsychoanalyse: das Unbewusste im Kino – das Kino im Unbewussten. Gießen: Psychosozial-Verlag 2018, S 179.
[10] Vgl. ZENATY, Sigmund Freud lesen, S. 291.
[11] Ebd., S. 46.
[12] Vgl. HAMBURGER, Filmpsychoanalyse, S 178.
[13] Vgl. Spies, Werner (Hrsg.), Die surrealistische Revolution (anlässlich der Ausstellung „Surrealismus 1919-1944: Dalí, Max Ernst, Magritte, Miró, Picasso ...“), Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002, S. 405.
[14] Vgl. ebd, S. 404.
[15] Vgl. SCHNEEDE, Die Kunst des Surrealismus, S. 12.
Quellenverzeichnis
BIRO, Adam, Dictionnaire général du surréalisme et de ses environs, Paris: Pr. Univ. de France [u.a.] 1982.
HAMBURGER, Andreas, Filmpsychoanalyse: das Unbewusste im Kino – das Kino im Unbewussten. Gießen: Psychosozial-Verlag 2018.
Lommel, Michael (Hrsg.), Surrealismus und Film: von Fellini bis Lynch, Bielefeld: transcript 2008.
Spies, Werner (Hrsg.), Die surrealistische Revolution (anlässlich der Ausstellung „Surrealismus 1919-1944: Dalí, Max Ernst, Magritte, Miró, Picasso ...“), Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002.
Töteberg, Michael (Hrsg.), Metzler-Film-Lexikon, Stuttgart [u.a.]: Metzler 2005.
ZENATY, Gerhard: Sigmund Freud lesen: Eine zeitgemäße Re-Lektüre. Bielefeld : transcript Verlag 2022.
Audiovisuelle Quellen