Abstract

Der filmische Stil der Dardenne-Brüder ist gekennzeichnet durch die Hervorhebung einer realistischen und sozialen Dimension. In dem Film Le gamin au vélo ist die Darstellung einer sozialen und realistischen Wirklichkeit vorrangig. In diesem Text soll herausgestellt werden, inwiefern sich die Thematik des sozialen Realismus in dem Film wiederfinden lässt und auf welche Art und Weise die Darstellung von Gewalt erfolgt.

Inhaltsverzeichnis

Spuren humanistischer Bildsprache (©Johanna Hötte)

In Le gamin au vélo sind Spuren humanistischer Bildsprache deutlich erkennbar.[1] Der Film zeigt reale und alltagsnahe Situationen und beleuchtet nicht nur die positiven Seiten des Lebens, sondern auch die Schattenseiten. In dem Film ist der Hauptdarsteller Cyril auf der Suche nach seinem Vater, der ihn jedoch bei ihrem Wiedersehen verstößt. Die Charaktere in den Filmen der Dardenne-Brüder sind oftmals verloren in hoffnungslosen oder traumatischen Situationen, wie auch in diesem Film, in dem Cyril schmerzhaft feststellen muss, dass sein Vater keinen Kontakt zu ihm haben möchte.[2] Die Charaktere sind rastlos suchende Personen, die versuchen, ihrem komplizierten Leben einen Sinn zu geben.[3] In dem Film Le gamin au vélo sucht Cyril seinen Vater unermüdlich auf und erhofft sich vergeblich seine Zuwendung; die Abkehr seines Vaters wühlt Cyril emotional auf - und äußert sich in Aggressionen und Gewalt, die im späteren Verlauf des Textes „Realistic Humanism“ erläutert werden.

Es kommt zu spannungsreichen Konfrontationen, doch mithilfe von Samantha nimmt Cyrils von bisher negativen und verletzenden Ereignissen geprägte Welt eine andere Gestalt an[4]: „Dans Le gamin au vélo, Cyril rencontre divers personnages incarnant cette tension entre le Bien et le Mal.“[5] In dieser existierenden Spannung zwischen Gut und Böse stellt Samantha eine Figur des Verständnisses und der Unterstützung dar. Samantha ist in jeder herausfordernden Situation für Cyril da und ist an seiner Seite. Wir in der Rolle der Zuschauerin glauben, dass die Ernüchterung und das Verletzende in Cyrils Vergangenheit durch die Zusammenkunft mit Samantha besiegt, beziehungsweise überwunden werden kann. Cyril wird ermöglicht, sich von seiner schmerzhaften Vergangenheit zu distanzieren. Der Film weist humanistische bzw. existenzielle Fragen auf: Die Integrität des menschlichen Lebens steht auf dem Spiel durch ein hohes Maß an gezeigten Aggressionen, aber auch Hass und Wut, welche keine geeigneten Bedingungen für die menschliche Entwicklung, in diesem Fall Cyrils, bieten.[6]

Eine wichtige Szene für die Präsentation widriger Lebensumstände ist die, in der Cyril sich mit seinem Vater trifft. Diese Szene verkörpert eine harte und schmerzhafte Realität für den Jungen, da Cyril vergeblich auf der Suche nach seinem Vater ist, und als er ihn ausfindig macht, möchte Cyrils Vater keinen Kontakt zu seinem Sohn. In der Szene im Bistro, der Arbeitsstelle des Vaters, macht die Einstellung der Kamera, die direkt vor beiden Figuren positioniert ist, auf eine intensive und zugleich eindringliche Art und Weise die psychische und emotionale Distanz sichtbar.[7] Diese dargestellte Nähe zeigt paradoxerweise, dass sich die Distanz zwischen Vater und Sohn letztendlich als unüberwindbar herausstellt und sich diese im Laufe des Filmes auch nicht zum Positiven wendet.[8] Durch die Blicklenkung und dadurch, dass sich die Kamera auf der Höhe von Cyrill befindet und man erkennen kann, dass Cyrill seinem Vater auf Schritt und Tritt folgt, aber auch durch das Abwenden des Vaters mittels seiner Körperhaltung und das Ausweichen des Vaters gegenüber Cyrils Blicken, wird deutlich, dass – trotz der Kameranähe – dennoch keine menschliche Nähe hergestellt werden kann. Durch die Nähe der Kamera zu den Figuren verringert sich die Distanz zwischen den Zuschauenden und ihnen nicht, stattdessen wird dem Publikum die Anerkennung des „Andersseins“ ermöglicht und das Geschehene kann uns nur schwer gleichgültig bleiben.[9]

Omnipräsenz und symbolische Bedeutung des Fahrrads

Cyrils Fahrrad begleitet ihn durch den gesamten Film und ist bei den meisten Ereignissen präsent. Bereits der Titel des Films liefert einen Hinweis auf die Wichtigkeit des Fahrrads. Das Fahrrad ist von großer Bedeutung für Cyril und den Film: „Mentionnons aussi l’importance du vélo, objet essentiel à la compréhension du discours humaniste des frères Dardenne.“[10]  Das Fahrrad ist ein wichtiger Begleiter Cyrils.

Es stellt eine wichtige, wenn nicht sogar die einzig sichtbare Verbindung zum Vater dar, da dieser ihm das Fahrrad zuvor geschenkt hatte. Jedoch muss Cyril später feststellen, dass sein Vater das Fahrrad verkauft hat. In dem Film droht Cyril drei Mal, dass ihm sein Fahrrad gestohlen wird, dies könnte symbolisch auf die Bindung zu seinem Vater verweisen, die er zu verlieren droht. Es ist darüber hinaus von großer symbolischer Bedeutung, da es die Vorstellung von Freiheit und Hoffnung verkörpert, aber auch als Möglichkeit zur Flucht dient, wie in der späteren Szenenanalyse verdeutlicht wird.[11] Schließlich dient es als Symbol oder Vorstellung, „zu Hause“ bei Samantha anzukommen. Hier zeigt sich, dass seine Bindung zu Samantha wächst und die Bindung zu seinem Vater „ersetzt“ wird.

Darstellung von Gewalt anhand von zwei Szenen

In dem Film wird die Makellosigkeit des menschlichen Lebens in Frage gestellt durch ein hohes Maß an Gewaltdarstellungen. Bereits von Beginn an nehmen die Zuschauenden fast schmerzhaft war, wie verzweifelt Cyril auf der Suche nach seinem Vater ist.[12] Cyril akzeptiert keine Regeln, ist voller Wut und hat diese nicht mehr unter Kontrolle, sogar gegenüber der Person, die ihm hilft, nämlich Samantha.[13] Dieses wird mithilfe der nachfolgenden Szenenanalyse verdeutlicht.

Die Szene entwickelt sich nach dem Treffen zwischen Cyril und seinem Vater und spielt sich in Samanthas Auto ab.Cyril wird von der Seite beziehungsweise über die Schulter gefilmt, sodass man seinen gesenkten Blick wahrnehmen kann. Diese Nahaufnahme ermöglicht es, dass seine Verzweiflung beziehungsweise seine Emotionen offenbart werden. Trotz der Nähe der Kamera zum Geschehen, wird eine Distanz aufrechterhalten und somit auch etwas „Unnahbares“ an den Figuren der Gebrüder Dardenne. Es wird zwar eine Nähe erzeugt, jedoch kann man sich nicht an die Stelle der Figuren setzen, was das „Unnahbare“ aufrechterhält.[14]

Die Gebrüder Dardenne kreieren in ihrer mise en scène eine Distanz, damit sich der Zuschauende weder mit der Figur identifizieren kann, weil sie zu weit von ihm entfernt ist, noch ist es möglich sie zu beurteilen bzw. bewerten, da die Figur dafür zu nah ist.[15] Die Regisseure leisten diese Gratwanderung, indem sie den Zuschauenden in einem Zustand ständiger Spannung halten: Die Figuren werden häufig von hinten mit einer Handkamera gefilmt, sodass die Zuschauenden ihnen bei ihren Aktivitäten folgten ohne ihre Identität zu kennen, noch ihre Motive zu verstehen, da diese erst im Nachhinein enthüllt werden.[16]

Zurück zur Szene im Auto: Als Samantha versucht Cyril aufzubauen, wendet sich Cyril direkt von ihr ab. Cyril verletzt sich selbst im Gesicht und schlägt seinen Kopf mehrfach gegen die Autoscheibe. Mittels der Kameraführung wird Nähe vermittelt und man fühlt sich, als würde man sich selbst im Auto befinden. Erst als Samantha ihn beruhigt und in den Arm nimmt, gelingt es, dass Cyril, sich zu beruhigen.

Um dieser Szene nun entgegenzustellen, dass sich Cyrils Gewalt nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen nahstehende Personen richtet, wird eine zweite Szene beschrieben, die dieses belegt. Die zweite Szene spielt sich in Samanthas Wohnung ab. Samantha bemerkt ein lautes Geräusch und geht diesem sofort nach. Die Kamera verfolgt Samantha, wodurch eine sehr unruhige Stimmung erzeugt wird. Cyril versucht, durch das Fenster zu fliehen, und Samantha versucht ihn davon abzuhalten. Cyril beißt Samantha hierbei. Es handelt sich um eine hektische und von Unruhe geprägte Szene. Als Cyril nach unten in den Friseursalon flieht und Samantha ihm folgt und versucht, ihn einzuholen, verletzt Cyril sie mit einem spitzen Gegenstand. Die Kamera verfolgt die beiden, sodass die hektische Situation unterstrichen wird und im Vordergrund bleibt. Wie zuvor beschrieben, hat das Fahrrad auch hier eine wichtige Funktion. Cyril gelingt es zu fliehen und das Fahrrad dient hierbei als Mittel zur Flucht.

Letztendlich kann Cyrill durch Samanthas Unterstützung aus der Gewaltspirale ausbrechen und hat mit ihr eine verständnisvolle Person an seiner Seite, aber auch eine wichtige Bezugsperson, die für ihn in jeder Situation da ist. Hier gibt es einen Bezug zur angedeuteten Aussage des Films, nämlich, dass man es aus menschlichem Leid mit Hilfe von Außen herausschaffen kann. Die Zusammenkunft von Samantha und Cyril ist ein Beispiel für eine Erfahrung des „Guten“, denn nur mit Samanthas Hilfe kann Cyril sich seiner Vergangenheit stellen und sie überwinden.[17]

Die Thematik des sozialen Realismus lässt sich im Film wiedererkennen. Der Film beinhaltet viele soziale und reale Alltagssituationen, verweist jedoch auch auf Probleme und Konflikte in Alltagssituationen und beleuchtet diese. Die Darstellung von Gewalt unterstreicht diesen Aspekt einmal mehr. Durch Nahaufnahmen und Handkamera wird den Zuschauenden ermöglicht, der Situation der Filmcharaktere aus nächster Nähe zu folgen und die Aussage des Films zu bezeugen: dass man mittels des „Guten“ aus einer menschlichen Misere entkommen kann.

Abb. 1: Schematischer Überblick: Sozialer Realismus und der Stil der Dardenne-Brüder in Le gamin au vélo (© Johanna Hötte, Dana Janina Feimann)

Merkmale des Stils der Dardenne-Brüder und ihre Einbettung in Le gamin au vélo (©Dana Janina Feimann)

Frédéric Bonnaud beschreibt die Gebrüder Dardenne als die genauesten Beobachter der neuen europäischen Arbeiterschaft, was sich in einer Vielzahl realistischer Elemente in ihren Filmen ausschlägt.[18] Deshalb wird im Folgenden darauf eingegangen, welche Merkmale in ihren Filmen typisch sind und wie diese in ihrem Film Le gamin au vélo zu erkennen sind.

Sozialer, verantwortungsvoller Realismus bzw. realistischer Humanismus

Der Philosoph Walter Lesch erörtert in seinem Text „Realistic Humanism“, dass die Filme dieser Regisseure von „realistic humanism“ geprägt seien, der sehr ähnlich zu dem Konzept des „responsible realism“ sei, welcher bei Philip Mosley Verwendung findet. Folgend erläutert er, dass der Realismus verantwortungsvoll sei, da die Filmemacher die ethische Herausforderung behandeln, Schwierigkeiten und Lebenskrisen zu begegnen, ohne dabei die Notwendigkeit nach Orientierung und besseren Zukunftswegen zu vernachlässigen. Leschs Meinung nach kann man den sozialen Realismus zum Beispiel daran erkennen, dass der Film Le gamin au vélo in einer Vorstadt in einer von der Industrie geprägten Region in der Wallonie spielt. Dieser Ort sei eine Gegend, in der die Einwohner*innen der Wandlung der Wirtschaft und Gesellschaft ausgesetzt seien.[19] Auch James Palmer erkennt einen Realismus in den Filmen, aber definiert diesen als „social realism“ aufgrund der kriminellen und familiären Aspekte in Le gamin au vélo.[20]

Heilige Dreifaltigkeit in Le gamin au vélo

Frédéric Bonnaud vertritt die These, dass es eine ‚Heilige Dreifaltigkeit‘ im Stil der Dardenne-Brüder gäbe. Diese bestehe aus der ‚Kollision‘, aus dem ‚Fall‘ und aus der ‚Rettung‘.[21] Auch wenn man eher vorsichtig mit dem Begriff der ‚Heiligen Dreifaltigkeit‘ umgehen sollte, kann dieses Schema in Le gamin au vélo erkannt werden. Zuerst sieht der Zuschauer die Kollision, die in diesem Film wörtlich realisiert wurde: Cyril, der auf der Suche nach seinem Vater war, rennt in eine Arztpraxis und stößt mit Samantha zusammen, einer wartenden Patientin, an der sich Cyril daraufhin festhält. Auch den Fall haben die Regisseure eingebracht, indem Cyril sich von dem kleinkriminellen Wes beeinflussen lässt und sich zu einem Überfall animieren lässt. Allerdings geht dieser schief, weil der Sohn des überfallenen Mannes Cyril bemerkt hat. Wes wendet sich daraufhin von Cyril ab und Cyril versucht mit dem gestohlenen Geld seinen Vater dazu zu bringen, dass er Cyril wieder bei sich aufnimmt, was aber misslingt. Daraufhin kann der Zuschauer die Rettung Cyrils beobachten, da Samantha dem Jungen vergibt, ihn trotz der Vorfälle wieder bei sich aufnimmt und ihm auch bei der offiziellen Entschuldigung der Täter-Opfer-Mediation seines Überfalls beisteht.

Christlichkeit und Märchen

Jean-Pierre Dardenne erläutert im Interview mit Frédéric Bonnaud, dass man Le gamin au vélo als „reverse Pietà“[22] interpretieren kann. Die Pietà meint das Bild der Maria, die den Leichnam Jesu in ihrem Schoß hält, allerdings sei diese Darstellung in Le gamin au vélo auf eine andere Weise zu entdecken. Bonnaud zeigt auf, dass Samantha, eine kinderlose junge Frau, die mit ihrem Freund zusammenwohnt, als die Jungfrau Maria gesehen werden kann. Sie nimmt einen Jungen auf, der von seinem Vater verstoßen wurde und ständig mit seinem Fahrrrad fährt. Indem sie ihn rettet, vollzieht Samantha eine selbstlose Handlung, die Geheimnisse birgt und nicht rückgängig gemacht werden kann. Ein märchenhaftes Element liegt, laut Jean-Pierre und Luc Dardenne, in der Wahl der Handlungsorte. Sie erklären, dass die Handlung nur an wenigen Orten spiele und diese Orte zunächst reale Orte seien, die dann aber vom mysteriösen Wald abgelöst würden. Daher könne die Nähe zum Märchen suggeriert werden und man könnte Samantha ggf. auch als gute Fee begreifen.[23] Lesch unterstützt diese Aussage, indem er beschreibt, dass Samanthas Altruismus als „unbelievable modern fairy tale“[24] angesehen werden kann. Er erwähnt auch, dass im Film immer wieder auf das christliche wie auch moralische Gebot „Du sollst nicht töten“ eingegangen werde.[25] Dieses Gebot sei in zwei Szenen zu erkennen: Als Cyril einen Mann überfallt und ihn bewusstlos schlägt sowie als der Sohn des überfallenen Mannes sich an Cyril rächt und einen Stein nach ihm wirft, woraufhin dieser aus einem Baum stürzt.

Charaktere der Dardenne-Brüder

Die Charaktere aus den Filmen der Gebrüder Dardenne und die filmische Darstellung sind sehr spezifisch und weisen einige Merkmale auf, die auch in Le gamin au vélo wiederzufinden sind. James Palmer erklärt, dass die Filmemacher nur selten die subjektive Einstellung der Kamera nutzen, um darzustellen, was und wie ein Charakter etwas wahrnimmt. Stattdessen nutzen sie häufig „displacement, […] subtext, and […] camerawork that is both intimate and discreet“[26], um durch eine Außensicht die Reaktionen und ggf. Emotionen der Charaktere zu zeigen. Palmer beschreibt weiterhin, dass die Emotionen verstärkt werden durch die Zurückhaltung der beiden Regisseure, da sie dazu tendieren, die Charaktere von einem „oblique angle“[27] zu filmen und den Fokus häufig auf den Rücken der Charaktere legen, während die Kamera die Figuren in der Bewegung dynamisch begleitet. Des Weiteren seien auch die Darstellung von Tränen ein Merkmal in den Filmen der Dardennes:

Als ein Beispiel kann man die Szene in Samanthas Friseursalon ansehen, in der Cyril an einem Waschbecken sitzt und mit dem Wasser spielt. Samantha sagt ihm zunächst, er solle den Wasserhahn ausmachen, geht dann zum Waschbecken und dreht den Wasserhahn selbst zu, worauf Cyril diesen nur wieder öffnet. Es kommt zu einem kleinen Kampf über den Wasserhahn und Samantha fragt Cyril, was los sei, aber dieser bleibt stumm. Die Regisseure lassen die Zuschauenden Cyrils Emotionen also nur durch die Kameraführung und den Subtext erkennen, anstatt die Gefühle durch eine Antwort von Cyril klar und deutlich zu formulieren. Auch sieht der Zuschauer Cyrils Gesicht nicht, weil er mit seinem Gesicht über dem Waschbecken hängt. Man kann also sehr gut erkennen, dass die Situationen im Film kommentarlos bzw. fast ohne Bewertung bleiben. Wenn es dann doch mal zu einer Bewertung einer Situation kommt, ist diese nur sehr subtil und ist am humanistischen Ideal orientiert. Dadurch wirkt der Stil der Dardenne-Brüder auf die Zuschauenden ‚dokumentarisch‘ und die Zuschauenden werden zu ‚Zeugen‘ der Situationen. Im Gegensatz zu Tränen kann man aber in dieser Szene erkennen, dass es zu einer Internalisierung von Cyrils Gefühlen kommt, indem er diese einfach aushält.[28] Daraus kann man vermuten, dass Cyril sich nicht in der Lage fühlt zu weinen, weshalb man hier eine filmische Metonymie identifizieren kann: Das Wasser aus dem Wasserhahn fließt stellvertretend für die Tränen.

Frédéric Bonnaud fügt noch hinzu, dass die Charaktere in den Filmen der Dardenne-Brüder in einem Zustand der Verletzlichkeit dargestellt werden.[29] Auch das kann man in Le gamin au vélo erkennen. Cyril ist von seinem Vater in einem Kinderheim zuürckgelassen und verstoßen worden, sein Vater hat finanzielle Probleme, Samantha wird trotz ihrer Gutmütigkeit von Cyril zunächst verstoßen und im Laufe des Films auch von ihm angegriffen, und selbst der Kleinkriminelle Wes wird in dem Moment, in dem seine kranke Mutter gezeigt wird, in gewisser Weise zu einem verletzlichen Charakter.

Walter Lesch deutet ebenfalls das Element der Verletzlichkeit an, da sich laut ihm die Charaktere in hoffnungslosen Situationen wiederfinden und traumatische Erfahrungen durchleben müssen. Der*die Zuschauer*in schaut den Charakteren dabei zu, wie sie versuchen, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern, ohne die Garantie, dass es auch funktionieren wird. Des Weiteren seien die Charaktere weder als rein gut noch als rein schlecht dargestellt, sondern eher als „more or less restlessly searching people who are trying to make sense of a complicated life“[30]. Als traumatische Erlebnisse kann man in Le gamin au vélo zum Beispiel zählen, dass Cyril von seinem Vater verlassen wird, in einem Kinderheim leben muss und seine weiteren Bezugspersonen in seiner Familie abwesend bzw. verstorben sind. Trotz des Verhaltens des Vaters wird dieser nicht zu einem absoluten Feind stilisiert genauso wenig wie der kriminelle Wes, weil die Möglichkeit des Verständnisses durch die Zuschauenden durch die Darstellung der finanziellen Probleme, der Überforderung des Vaters und der kranken Mutter von Wes angelegt ist.

Licht, Farben und Musik

Bezüglich der Farben und des Lichts weist Bonnaud im Interview daraufhin, dass in Le gamin au vélo Farben anders genutzt werden als in vorherigen Filmen der Dardenne-Brüder. Laut ihm sind lebendige Farben auf einem großen Teil der Bildschirmfläche immer wieder zu sehen, sei es das rote T-Shirt von Cyril oder die Farben der Busse. Jean-Pierre Dardenne erklärt daraufhin, dass vor allem das Licht stärker variiere als in ihren vorherigen Filmen und es dadurch ‚schimmernder‘ sei mit dem Ziel, auch Momente des Glücks und der Freude einzufangen.[31]

Walter Lesch fügt dem noch hinzu, dass dieser Film der erste der Gebrüder Dardenne ist, der im Sommer gefilmt wurde. Auch das sei ein Grund für die Atmosphäre im Film, die heller und bunter sei. Mit „Piano Concerto No. 5“ schließlich haben die Dardenne-Brüder zum ersten Mal Musik in ihrem Film verwendet, welche vorher strikt ausgelassen wurde.[32]

- von Johanna Hötte und Dana Janina Feimann -

Dieser studentische Text ist im Rahmen des Romanistik-Seminars "Das BelgienNet II: medienpraktische Perspektiven auf die Kultur Belgiens" im Wintersemester 2021/2022 entstanden. Hier finden Sie die französische Version dieses Artikels.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Hamel, J.-F. „Autour d’une imagerie humaniste/ Le Gamin au vélo de Jean Pierre et Luc Dardenne, Belgique, 2011, 87 min“, in: Ciné-Bulles, 30/3, 2012, S. 47.

[2] Vgl. Lesch, W., „Realistic Humanism“, in: Journal for Religion, Film and Media, 2/2, 2016, S. 34.

[3] Vgl. ebd.

[4] Vgl. Hamel, Autour d’une imagerie humaniste, S. 46-47.

[5] Ebd., S. 47.

[6] Vgl. Lesch, Realistic Humanism, S. 40.

[7] Vgl. Hamel, Autour d’une imagerie humaniste, S. 49.

[8] Vgl. ebd.

[9] Vgl. Lesch, Realistic Humanism, S. 39.

[10] Hamel, Autour d’une imagerie humaniste, S. 48.

[11] Vgl. ebd.

[12] Vgl. Euvrard, M., „Review of Le Gamin au vélo: Cyril et Samantha“, in: Séquences, 274, 2011, S. 42-43.

[13] Vgl. ebd., S. 42.

[14] Vgl. Clémot, Hugo, „L’enfant (Jean-Pierre Dardenne et Luc Dardenne, 2005)“, in: Ardienne Boutang et. al (Hrsg.), L’analyse des films en pratique. 31 exemples commentés d’analyse filmique, Malakoff, 2018, S. 200.

[15] Vgl. Bissière, Michèle, „De La Promesse (1996) à L’enfant (2005): Le cinéma éthique des frères Dardenne“, in: Dialogues et Cultures, 56, 2009, S. 112.

[16] Vgl. ebd.

[17] Vgl. Lesch, Realistic Humanism, S. 40.

[18] Vgl. Bonnaud, Frédéric und Robbins, Jonathan, „Radical“, in: Film Comment, 48/2, März/April 2012, S. 22.

[19] Vgl. Lesch, Realistic Humanism, S. 33–34.

[20] Vgl. Palmer, James, „The Kid with a Bike: From Abandonment to rebirth“, in: Psychological Perspectives, 57, 2014, S. 83.

[21] Vgl. Bonnaud, Robbins, Radical, S. 22.

[22] Dardenne in Bonnaud, Robbins, Radical, S. 24.

[23] Vgl. Bonnaud, Robbins, Radical, 23-25.

[24] Lesch, Realistic Humanism, S. 41.

[25] Vgl. Lesch, Realistic Humanism, S. 41.

[26] Palmer, The Kid with a Bike, S. 84.

[27] Ebd., S. 85.

[28] Vgl. ebd., S. 81, S. 84–85.

[29] Cf. Bonnaud, Robbins, Radical, 22.

[30] Lesch, Realistic Humanism, S. 34.

[31] Cf. Bonnaud, Robbins, Radical, S. 24–25.

[32] Cf. Lesch, Realistic Humanism, S. 40–41.

Quellenverzeichnis

Bonnaud, Frédéric und Robbins, Jonathan, „Radical“, in: Film Comment, 48/2, März/April 2012, S. 22.

Bissière, Michèle, „De La Promesse (1996) à L’enfant (2005): Le cinéma éthique des frères Dardenne“, in: Dialogues et Cultures, 56, 2009, S. 109-116 (Auszug).

Clémot, Hugo, „L’enfant (Jean-Pierre Dardenne et Luc Dardenne, 2005)“, in: Ardienne Boutang et. al (Hrsg.), L’analyse des films en pratique. 31 exemples commentés d’analyse filmique, Malakoff, 2018, S. 199-205.

Euvrard, M., „Review of Le Gamin au vélo: Cyril et Samantha“, in: Séquences, 274, 2011, S. 42-43.

Hamel, J.-F. „Autour d’une imagerie humaniste/ Le Gamin au vélo de Jean Pierre et Luc Dardenne, Belgique, 2011, 87 min“, in: Ciné-Bulles, 30/3, 2012, S. 46–49.

Lesch, W., „Realistic Humanism“, in: Journal for Religion, Film and Media, 2/2, 2016, S. 34–40.

Palmer, James, „The Kid with a Bike: From Abandonment to rebirth“, in: Psychological Perspectives, 57/1, 2014, S. 79–93.

Audiovisuelle Quellen

Le gamin au vélo (2011, Belgien), Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne.