Die auswärtigen Angelegenheiten des Königreichs Belgien nach belgischem Verfassungsrecht. Eine kurze Übersicht

Seit der belgischen Unabhängigkeit von 1830 haben internationale Beziehungen und Geschehnisse die Existenz, die Ausdehnung und die Politik des belgischen Staates tiefgehend beeinflusst. Die Beispiele für die Wichtigkeit der auswärtigen Angelegenheiten des kleinen Staates sind zahllos.[1] Man denke beispielsweise an die Unterstützung verschiedener Großmächte, darunter Preußen[2] und Frankreich,[3] die die Unabhängigkeit des jungen belgischen Staates im Rahmen des belgisch-niederländischen Konflikts garantierte und schlussendlich durch das Londoner Protokoll vom 19. April 1839 gesichert wurde. Beinahe ein Jahrhundert später waren es ebenfalls internationale Geschehnisse, die dazu führten, dass das belgische Territorium vergrößert wurde. Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg wurden dem belgischen Königreich durch den Versailler Vertrag die sogenannten Ostkantone zugeschrieben, in deren deutschsprachigen Gemeinden heute die Mehrheit der deutschsprachigen Belgier*innen lebt. Einige Jahrzehnte später, nach einem weiteren Weltkrieg, nahm Belgien, ebenfalls auf internationaler Ebene, an der Grundsteinlegung für die heutige Europäische Union teil.[4]

- Von Andy Jousten,FRS-FNRS Research Fellow an der ULiège -

 


Inhaltsverzeichnis


 

I. Einleitung

Aus Belgien in die ganze Welt (© FÖD Auswärtige Angelegenheiten, Belgien)

In seiner beinahe zweihundertjährigen Existenz haben die auswärtigen Angelegenheiten im belgischen Staatssystem also eine wichtige Rolle gespielt. Mit der Föderalisierung des Landes, die neben einer Föderalbehörde zur Schaffung von zwei verschiedenen Arten von Teilstaaten geführt hat – den sogenannten Regionen und Gemeinschaften[5]–, ist auch die verfassungsmäßige Regelung der auswärtigen Angelegenheiten Belgiens komplexer geworden.[6] Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, eine kurze und vereinfachte Übersicht dieser Regelung zu liefern, um den Leser*innen einen Einblick in das Uhrwerk der internationalen Beziehungen Belgiens zu verschaffen.[7]

Zuerst werden wir allgemein auf den Einfluss des belgischen Föderalismus auf die auswärtigen Beziehungen Belgiens eingehen (I). In einem zweiten Abschnitt werden einige spezifische Aspekte der internationalen Beziehungen behandelt (II), darunter der Abschluss von internationalen Abkommen (A), die Anerkennung anderer Staaten und die diplomatischen Beziehungen mit denselben (B), die Vertretung Belgiens in internationalen Organisationen (C), sowie die Beteiligung Belgiens an militärischen Einsätzen (D).

 

II. Der Einfluss des Föderalismus auf die auswärtigen Angelegenheiten Belgiens: ein Spiegelbild der innerbelgischen Föderalstaatsstruktur

Vor der Föderalisierung Belgiens war die Zuständigkeitsverteilung im Hinblick auf die internationalen Beziehungen Belgiens recht unkompliziert. Artikel 68 der Verfassung von 1831 schrieb dem König – und seiner Regierung[8] – das Monopol im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten zu: „Der König befehligt die Land- und Seestreitkräfte, erklärt den Krieg, schließt Friedens-, Bündnis- und Handelsverträge ab“.

Das Maß an Beteiligung des belgischen Parlaments – das sich aus zwei Kammern, der Abgeordnetenkammer und dem Senat, zusammensetzt – variierte je nach Art der betroffenen internationalen Handlung. So oblag der König in der Regel einer Informationspflicht gegenüber den Kammern, „sobald es die Interessen und die Sicherheit des Staates erlaub[t]en“. Zusätzlich sah Artikel 68 der Verfassung, Absatz 2, vor, dass Handelsverträge und Verträge, die den Staat belasten oder einzelne Belgier*innen binden könnten, erst nach Zustimmung der Kammern wirksam wurden. Für solche internationalen Abkommen war also mehr als eine Information an die Kammern nötig: Diese mussten mit dem Abkommen einverstanden sein.[9] Darüber hinaus durfte eine Veränderung des belgischen Territoriums nur auf der Basis einer vorherigen gesetzlichen Grundlage erfolgen, die die gesetzgebende Gewalt vorher verabschieden musste.

Mehr als ein Jahrhundert lang basierte die internationale Aktivität Belgiens auf diesen recht kurzen und bündigen Regeln. Alle in der Einleitung genannten Beispiele wurden durch diese Regeln begleitet.

Einführung in die belgische Staatsstruktur

- Von Prof. Christian Behrendt, ULiège, KULeuven, École Royale Militaire -

  • - Eine Einführung in die belgische Staatsstruktur könnte Gegenstand eines mehrere hundert Seiten langen Werkes sein, da die Erklärung eines Aspekts fast unausweichlich die eines anderen erfordert. Im Rahmen dieses Beitrages können somit nur die Grundzüge der belgischen Staatsstruktur erläutert werden. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf der Föderalstruktur liegen (I), die sich Belgien mit der Bundesrepublik… Weiterlesen

     Ab den 1970er Jahren führten die in Belgien wirkenden zentrifugalen Kräfte zur progressiven Umsetzung der Föderalisierung. Zu diesem Zeitpunkt wurden den Gemeinschaften wenig umfangreiche internationale Befugnisse zugesprochen. Es war die Staatsreform vom 5. Mai 1993, die zur aktuellen Regelung der auswärtigen Angelegenheiten Belgiens geführt hat. Artikel 68 der Verfassung von 1831 wurde also neu aufgestellt, um der Föderalisierung des Landes Rechnung zu tragen.[10] Im Rahmen der Koordinierung der Verfassung von 1994 wurde Artikel 68 zu Artikel 167 in der heutigen Version der belgischen Verfassung.[11]

Laut Artikel 167, § 1, der Verfassung, leiten der König und somit die Regierung „die internationalen Beziehungen, unbeschadet der Zuständigkeit der Gemeinschaften und Regionen, die internationale Zusammenarbeit einschließlich des Abschlusses von Verträgen in den Angelegenheiten[...], für die [letztere] durch die Verfassung oder aufgrund der Verfassung zuständig sind“. Die Regelung scheint auf den ersten Blick recht einfach zu sein: Die Föderalbehörde und die Teilstaaten – also die Regionen und die Gemeinschaften – sind für die internationale Zusammenarbeit einschließlich des Abschlusses von Verträgen in den Angelegenheiten befugt, für die sie auch intern durch die Verfassung oder aufgrund der Verfassung zuständig sind.

Zusammengefasst wird diese Regelung unter dem Motto „in foro interno – in foro externo“: die internationale Zuständigkeit der belgischen Institutionen ist ein Spiegelbild der innerbelgischen Zuständigkeiten.[12]Die Gemeinschaften besitzen laut belgischem Staatsrecht beispielsweise eine beinahe exklusive Befugnis im Bereich des Unterrichtswesens.[13] Somit sind sie, laut Artikel 167 der Verfassung, befugt, auf internationaler Ebene mit anderen Staaten zu kooperieren, beispielsweise um ein Programm zum internationalen Schüleraustausch zu schaffen.

Problematisch bezüglich dieser innerbelgischen Regelung ist, dass auf internationaler Ebene der Grundsatz der Einheit und der Unteilbarkeit des Staates gilt. Auf der Basis dieses Grundsatzes, könnte ein Staat somit eine Zusammenarbeit mit einem belgischen Teilstaat verweigern, da im Sinne des internationalen Rechts nur das Belgische Königreich als solches existiert, auch wenn das nationale belgische Recht den Teilstaaten internationale Befugnisse zugesteht.[14] Internationale Initiativen der belgischen Teilstaaten sind somit möglich; das bedeutet aber nicht, dass diese immer unproblematisch zu Stande kommen.[15]

Es sei angemerkt, dass der Grundsatz der Einheit und der Unteilbarkeit des Staates auch zur Folge hat, dass Verletzungen des internationalen Rechts, die auf die Handlung oder das Unterlassen eines Teilstaates zurückzuführen sind, auch ausschließlich zur Verurteilung des Belgischen Königreiches als solches führen. Setzt die Wallonische Region beispielsweise eine Europäische Richtlinie im Bereich der Umweltverträglichkeitsprüfung in der Umweltgesetzgebung nicht um, für die sie laut belgischem Staatsrecht zuständig ist, werden sich die eventuellen europäischen Sanktionen gegen den belgischen Staat richten, nicht gegen die Wallonische Region.

III. Einige besondere Aspekte der auswärtigen Angelegenheiten Belgiens

III.A Der Abschluss von internationalen Abkommen

   Wie im vorangehenden Abschnitt erklärt wurde, teilt Artikel 167 der Verfassung die Zuständigkeit für den Abschluss von internationalen Abkommen zwischen der belgischen Föderalbehörde und den Teilstaaten – Regionen und Gemeinschaften – auf.

Eine solche Aufteilung ist – unbeschadet der Problematik der Einheit des Staates auf internationaler Ebene, die bereits erwähnt wurde – recht effektiv, wenn ein internationales Abkommen ausschließlich die Zuständigkeit eines Bestandteils des belgischen Föderalsystems betrifft, wie zum Beispiel einen spezifischen Aspekt des Unterrichtswesens, für den die Gemeinschaften ausschließlich zuständig sind.

Die zwischenstaatlichen Beziehungen und internationalen Angelegenheiten sind aber komplex, und nicht selten kommt es vor, dass internationale Abkommen mehrere Zuständigkeitsebenen betreffen: regionale und gemeinschaftliche Zuständigkeiten; regionale und föderale Zuständigkeiten; gemeinschaftliche und föderale Zuständigkeiten oder sogar regionale, gemeinschaftliche und föderale Zuständigkeiten. Für diese Fälle wurden von der Verfassung und ihren Ausführungsgesetzen Bestimmungen vorgesehen, die das Zustandekommen solcher internationaler Abkommen regeln. Dies gilt insbesondere für sogenannte Mischabkommen – „traités mixtes“ –, die Zuständigkeiten der Föderalbehörde und eines oder mehrerer Teilstaaten betreffen, für die ein Zusammenarbeitsabkommen zwischen den verschiedenen Teilen des föderalen Belgiens besteht.[16]

Ohne detailliert auf diese komplexen Fälle einzugehen, führt der Gesamtprozess des Abschlusses eines internationalen Abkommens zu einem Zusammenspiel von Regierung und Parlament des (oder der) betroffenen Teils (Teile) des belgischen Föderalgebildes. Ausgehend von einem Abkommen, das ausschließlich die Föderalbehörde betrifft, führt der König – das heißt, die Regierung oder ein Regierungsvertreter – die Verhandlungen, die zur Unterzeichnung des internationalen Abkommens führen. Im Anschluss an die Unterzeichnung wird das Abkommen von der Regierung ratifiziert[17] – wodurch es für Belgien auf internationaler Ebene bindend wird – und durch das Parlament gebilligt[18] – wodurch sein Inhalt auf der innerbelgischen Ebene, also im Sinne des belgischen Rechts, bindend wird.

In der Regel können Ratifizierung und Billigung in einer beliebigen Reihenfolge erfolgen. Eine Ausnahme, die wir vorher schon erwähnt haben, betrifft Veränderungen des belgischen Territoriums.[19] In diesem Fall muss die Zustimmung/Billigung vor der Ratifizierung erfolgen. Zusammengefasst soll diese Verpflichtung sicherstellen, dass zum Beispiel bei einem territorialen Zuwachs aus innerbelgischer Sicht die Grundlage für einen Eingriff der belgischen Behörden – darunter natürlich der Polizei – sichergestellt ist, bevor Belgien aus internationaler Sicht für ein Territorium verantwortlich wird. Ein weiterer Fall, bei dem die Billigung vor der Ratifizierung erfolgen muss, ist der der vorher erwähnten Mischabkommen: Alle betroffenen Parlamente des föderalen Belgiens müssen das Abkommen billigen, bevor es ratifiziert werden kann.[20]

III.B Die Anerkennung anderer Staaten und die diplomatischen Beziehungen

     Bevor es zum Abschluss von internationalen Abkommen zwischen zwei oder mehreren Staaten kommen kann, müssen diese sich gegenseitig anerkennen und miteinander in diplomatische Beziehungen treten. Die Anerkennung anderer Staaten – sowie das Knüpfen von diplomatischen Beziehungen – ist eine Zuständigkeit des Königs, also der Föderalregierung.[21] Diese Zuständigkeit wird daraus abgeleitet, dass Artikel 167, § 1, der Verfassung dem König die Zuständigkeit für „die Leitung der internationalen Beziehungen“ zuschreibt.[22] Es obliegt also der Föderalbehörde, neue Staaten offiziell anzuerkennen, wie zum Beispiel den Kosovo 2008, und mit ihnen in diplomatische Beziehungen zu treten, bzw. diese zu beenden. Aktuell betrifft die wichtigste und komplizierteste Debatte die Anerkennung eines eigenständigen Staates Palästina, die natürlich aufgrund des internationalen Kontexts und der diesbezüglichen Spannungen erschwert wird.

Interessant ist die Tatsache, dass die föderale Exekutive in diesem Bereich in den letzten Jahren eine gewisse Konkurrenz von der dritten Gewalt des belgischen Staates, der Judikative, erhalten hat. Wie eine noch zu veröffentlichende Studie an der Universität Lüttich zeigen wird,[23] scheinen verschiedene belgische Gerichte seit 2017 eine Unterscheidung zwischen, einerseits, der offiziellen Anerkennung eines Staates und, andererseits, seiner tatsächlichen Existenz zu machen. Mit anderen Worten haben diese Gerichte die Existenz einer souveränen Rechtsordnung – eines Staates – anerkannt, obwohl die belgische Exekutivgewalt dies nicht offiziell getan hat. Die besagte Rechtsprechung ist im vorher genannten Rahmen der Debatte über die Existenz eines eigenständigen palästinischen Staates erfolgt, der von der belgischen Regierung (noch?) nicht anerkannt wird; dies beeinflusst den Status und den internationalen Schutzanspruch der Palästinenser*innen.

Belgien und Deutschland: eine kleine Beziehungsgeschichte

- Von Dr. Christoph Brüll, Universität Luxemburg -

  • - Wer in der Öffentlichkeit von den Beziehungen zwischen Belgien und Deutschland spricht, erzählt zumeist eine Erfolgsgeschichte: Zwei europäische Partner mit vielen gemeinsamen Interessen und intensiven Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und kaum je politischen Streitfragen. Dass Belgien nach zwei deutschen Besatzungen in den beiden Weltkriegen seit dem Ende der 1940er Jahre zu den ersten Ländern gehörte, die… Weiterlesen

Die französisch-belgischen Beziehungen

- Von Prof. Dr. Catherine Lanneau, Universität Lüttich -

  • - Wie jede Nachbarschaftsbeziehung ist auch jene zwischen Frankreich und Belgien komplex und weist Nuancen und Entwicklungen auf, die sich mal unbemerkt, mal sichtbar abzeichnen. Aufgrund der überwiegend gemeinsamen Sprache und Kultur, die Frankreich mit einem Teil der Belgier verbindet, nimmt das Land einen besonderen Platz unter den belgischen Nachbarn ein, dennoch bleiben auf beiden Seiten… Weiterlesen

III.C Die Vertretung Belgiens in internationalen Organisationen

   Durch internationale Abkommen können natürlich auch internationale Organisationen geschaffen werden. Die verfassungsmäßige Organisation der auswärtigen Angelegenheiten Belgiens beeinflusst ebenfalls die Vertretung Belgiens in den vielen internationalen Organisationen, in denen das Königreich Mitglied ist, wie zum Beispiel der Europäischen Union.

So tagt im Rat der Europäischen Union der, je nach behandeltem politischen Bereich, zuständige Minister eines jeden Mitgliedsstaates der Union. Manche der behandelten Themenbereiche liegen laut belgischem Verfassungsrecht in der Zuständigkeit der Teilstaaten, wodurch für Belgien gleich mehrere Minister zuständig sind.

Die EU (©Sara Kurfeß, via Unsplash)

Die Regeln für die Repräsentation Belgiens im Rat der Europäischen Union finden sich erneut in einem Zusammenarbeitsabkommen wieder,[24] dass in der Regel ein Rotationssystem pro Semester vorsieht. So tagt pro Semester jeweils einer der nach nationalem Recht zuständigen Minister. Eine Ausnahme gilt für die Bereiche Landwirtschaft und Seefischerei, wo man aufgrund der Wichtigkeit der gemeinsamen Agrarpolitik davon ausgegangen ist, dass die ständige Repräsentation durch ein und dieselbe Person vorzuziehen ist.[25]

Weitere Beispiele für wichtige internationale Organisationen, in denen Belgien Mitglied ist, sind die UNO – Belgien ist seit 2019 ein zeitweiliges Mitglied des Sicherheitsrates –, die WHO, die WTO oder auch, auf militärischer Ebene, die NATO.

Belgien in der EU - eine kleine Geschichte

- Von Ermal Ndini, Brüssel -

  • - I. Der Einfluss Belgiens auf den Europäischen Integrationsprozess Als Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1951), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957) wie auch der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG, 1957) gehört Belgien seither zu den bedeutendsten Fürsprechern der europäischen Integration. Für die Belgier stellt der Prozess der europäischen Integration ein wichtiges politisches Projekt dar,… Weiterlesen

III.D Die Beteiligung Belgiens an militärischen Einsätzen

    Wie schon Artikel 68 der Verfassung von 1831, sieht die 1993 abgeänderte und 1994 koordinierte Version in ihrem Artikel 167, § 1, Abs. 2, Folgendes vor: „Der König befehligt die Streitkräfte, stellt den Kriegszustand sowie das Ende der Kampfhandlungen fest. Der König setzt die Kammern davon in Kenntnis, sobald das Interesse und die Sicherheit des Staates es erlauben, und fügt die angemessenen Mitteilungen hinzu“.

Die militärischen Befugnisse liegen somit beim König – das heißt, de facto, bei der Föderalregierung – und ein Teilstaat Belgiens wäre somit beispielsweise rechtlich unbefugt, einem anderen Land den Krieg zu erklären. Auf der Grundlage dieser Verfassungsbestimmung und durch die Initiative der Föderalbehörde nimmt Belgien regelmäßig an internationalen Einsätzen, vor allem im Rahmen der NATO, teil.

Verfassungsrechtlich interessant ist ganz besonders, dass die Auslegung von Artikel 68 bzw. 167 der Verfassung sich über die Jahre hinweg verändert hat, obwohl der Wortlaut der Bestimmung, abgesehen von der Föderalisierung, weitestgehend stabil geblieben ist. Bis 1949 wurde der Text nämlich dahingehend ausgelegt, dass die persönlichen Prärogativen des Königs in Kriegszeiten beträchtlich größer wurden, als in Friedenszeiten. In Kriegszeiten ging man nämlich davon aus, dass der König selbst und ohne ministerielle Gegenzeichnung – die die Regel in einer konstitutionellen Monarchie darstellt – die Streitkräfte befehligte. So befehligten König Albert I und König Leopold III beispielsweise die belgischen Streitkräfte jeweils im Ersten und im Zweiten Weltkrieg.[26]

Statue von König Albert I in Brüssel (© Sergi Design, via Unsplash)

Im Rahmen der Aufarbeitung der Geschehnisse um König Leopold III und die Regierung Pierlot während des Zweiten Weltkriegs – König und Regierung waren in Bezug auf die weitere Beteiligung Belgiens am Krieg gegen Deutschland zutiefst gespalten[27] – wurde 1949 vom sogenannten „Soenens Ausschuss“[28] klargestellt, dass auch die militärische Befehlsgewalt des Königs ausnahmslos einer ministeriellen Gegenzeichnung bedarf und der König auch in Kriegszeiten keine persönliche Befehlsgewalt über die belgischen Streitkräfte hat.[29]

Seit 1949 gilt bezüglich der militärischen Befehlsgewalt eine Unterscheidung zwischen der sogenannten eminenten Befehlsgewalt und der effektiven Befehlsgewalt. Die eminente Befehlsgewalt liegt beim König, also der Föderalregierung. Sie betrifft die Entscheidung für einen Einsatz der belgischen Truppen, beispielsweise im Rahmen einer NATO-Mission, die Erklärung des Kriegszustandes, sowie die Beendigung eines Einsatzes und des Kriegszustandes. Die effektive Befehlsgewalt liegt, unter der Verantwortung des Verteidigungsministers, bei der militärischen Befehlskette. Sie betrifft die konkreten militärischen Entscheidungen, die im Rahmen eines Einsatzes getroffen werden müssen.[30]

 

IV. Schluss

     Internationale Beziehungen sind für den – flächenmäßig – recht kleinen belgischen Staat von äußerster Wichtigkeit. Wo andere Staaten auf internationaler Ebene nur das belgische Königreich sehen, verbirgt sich eine komplizierte Regelung, die es allen Teilen der belgischen Föderalstaatsstruktur ermöglichen soll, auf dem Parkett der zwischenstaatlichen Beziehungen aktiv zu werden. Dafür wurden innovative Lösungen geschaffen, in die der*die Leser*in durch den vorliegenden Beitrag einen ersten Einblick erhalten hat. Unten finden Sie Links zu weiteren Beiträgen, die Sie über Belgiens Verhältnis zu einzelnen Staaten informieren.

- Von Andy Jousten, FRS-FNRS Research Fellow an der ULiège -

Anmerkungen

[1] Für eine kompakt zusammengefasste Übersicht der Geschichte der Auslandspolitik Belgiens siehe F. Bouhon und X. Miny, Éléments de droit public: Considérations générales et particularités belges, Lüttich, Presses universitaires de Liège, 2020, S. 348-352.

[2] Siehe diesbezüglich hier im BelgienNet, C. Brüll, Belgien und Deutschland – eine kleine Beziehungsgeschichte(https://belgien.net/belgienunddeutschland-2/).

[3] Siehe diesbezüglich hier im BelgienNet, C. Lanneau, Die französisch-belgischen Beziehungen (https://belgien.net/die-franzoesisch-belgischen-beziehungen/)

[4] Über die Rolle Belgiens in der europäischen Integration, siehe hier im BelgienNet, E. Ndini, Belgien in der EU – eine kleine Geschichte(https://belgien.net/belgien-in-der-eu-eine-kleine-geschichte/).

[5] Siehe dazu hier im BelgienNet, C. Behrendt, Einführung in die belgische Staatsstruktur (https://belgien.net/belgienunddeutschland/).

[6] Im vorliegenden Beitrag wird in der Regel die belgische Rechtsterminologie deutscher Sprache benutzt, die sich teilweise von der bundesdeutschen Rechtsterminologie unterscheidet. So spricht man in der belgischen Rechtsterminologie beispielsweise von einem Föderalstaat und nicht von einem Bundesstaat. Siehe zur belgischen Rechtsterminologie deutscher Sprache A. Jousten, „Der rechtliche Rahmen macht’s möglich? Variation in der deutschen Rechtsterminologie Belgiens aus der Sicht eines Juristen“, in Nationale Variation in der deutschen Rechtsterminologie, Schriftenreihe der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, Band 13, Eupen, Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft, 2019, S. 13-48.

[7] Für weiterführende Informationen können unter anderem folgende kürzlich erschienene allgemeine Werke herangezogen werden: J. Velaers, De Grondwet. Een artikelsgewijze commentaar, Band 3, Brügge, die Keure, 2019, S. 344 ff; F. Bouhon und X. Miny, Éléments de droit public: Considérations générales et particularités belges, Lüttich, Presses universitaires de Liège, 2020, S. 313-363; C. Behrendt und M. Vrancken, Principes de droit constitutionnel belge, Brüssel, la Charte, 2019, S. 347-357 und 486-502. Aufgrund seiner detaillierten Beschreibung der Regelung der auswärtigen Angelegenheiten und der großen Anzahl an Verweisen hat das zuletzt genannte Werk uns als vorrangige Inspirationsquelle für den vorliegenden Beitrag gedient.

[8] Auf föderaler Ebene liegt die Exekutivgewalt beim König und der Föderalregierung. In der heutigen Rechtslage sind die Verweise auf den König, die in der belgischen Verfassung zu finden sind, als Verweise auf die Föderalregierung zu verstehen. Die politische Entscheidungsmacht liegt bei der Regierung, die die Entscheidungen de facto vorbereitet. Besagte Entscheidungen werden dann dem König zur formalen Unterzeichnung vorgelegt, und – je nach Fall und in Übereinstimmung mit Artikel 106 der Verfassung – von einem oder mehreren Ministern gegengezeichnet (siehe F. Bouhonund X. Miny, Éléments de droit public: Considérations générales et particularités belges, Lüttich, Presses universitaires de Liège, 2020, Rn. 102). In der Vergangenheit waren die tatsächliche Beteiligung des Königs an der Regierungsarbeit, sowie sein persönlicher Handlungsraum, größer. Wie wir unten erklären werden (Rn. 13), kamen dem König persönlich in Kriegszeiten beispielsweise besonders große Befugnisse zu.

[9] Über die heutige Prozedur bezüglich des Abschlusses von internationalen Abkommen, siehe unten, Rn. 7.

[10] C. Behrendt und M. Vrancken, Principes de droit constitutionnel belge, Brüssel, la Charte, 2019, S. 468.

[11] Die verschiedenen Reformen der belgischen Staatsstruktur – vor allem im Zuge der Föderalisierung des Landes – hatten dazu geführt, dass die belgische Verfassung sehr unübersichtlich geworden war. 1994 wurde deshalb entschieden, die Verfassung zu koordinieren, was, zusammengefasst, zu einer neuen Nummerierung und Strukturierung des Verfassungstextes geführt hat.

[12] Siehe u.a. J. Velaers, “‘In foro interno et in foro externo’ : de internationale bevoegdheden van de gemeenschappen en de gewesten”, in F. Judound G. Geudens (Hg.), Internationale betrekkingen en federalisme, Gent und Brüssel, Larcier, 2006, S. 3-86.

[13] Artikel 127 und 130 der Verfassung.

[14] Siehe beispielsweise die Erklärungen bezüglich der französischen Haltung zur belgischen Föderalisierung hier im BelgienNet, C. Lanneau, Die französisch-belgischen Beziehungen (https://belgien.net/die-franzoesisch-belgischen-beziehungen/.

[15] Siehe hierzu und zur Lösung dieses Problems C. Behrendt und M. Vrancken, Principes de droit constitutionnel belge, Brüssel, la Charte, 2019, S. 486-488.

[16] Siehe Artikel 167, §§ 2 und 4, der Verfassung, Artikel 92bis, § 4ter des Sondergesetzes vom 8. August 1980 über institutionelle Reformen (B.S., 15. August 1980), sowie das Zusammenarbeitsabkommen vom 8. März 1994 zwischen dem Föderalstaat, den Gemeinschaften und den Regionen bezüglich der Modalitäten des Abschlusses von Mischabkommen (B.S., 17. Dezember 1996).

[17] Die Ratifizierung erfolgt durch einen Königlichen Erlass (auf der föderalen Ebene) und durch einen Regierungserlass (auf Ebene der Teilstaaten).

[18] Die Billigung erfolgt durch ein Gesetz (auf der föderalen Ebene), durch eine Ordonnanz (so heißen die Gesetze auf Ebene der Region Brüssel-Hauptstadt) oder durch ein Dekret (so heißen die Gesetze auf Ebene der anderen Teilstaaten). Auf der föderalen Ebene – wo das Parlament, wie oben erwähnt, aus zwei Kammern besteht – erfolgt die Billigung in der Regel durch die Abgeordnetenkammer (Artikel 74 der Verfassung). Bei Abkommen, die das Territorium Belgiens beeinflussen, hat neben der Abgeordnetenkammer jedoch auch der Senat gewisse Rechte (Artikel 78 der Verfassung).

[19] Artikel 167, § 1, Abs. 3, der Verfassung. Für eine Übersicht zu den territorialen Veränderungen Belgiens, siehe C. Behrendt, “Les modifications des limites de l’espace souverain belge depuis 1830”, in A. Alen, F. Daout, P. Nihoul (Hg.), Libertés, (l)égalité, humanité. Mélanges offerts à Jean Spreutels, Bruxelles, Bruylant, 2018. Für ein recht aktuelles und kurioses Beispiel, siehe A. Louvigny, La Belgique perd un bout de territoire au profit des Pays-Bas, Rtbf.be, 6. Januar 2016.

[20] Artikel 9 bis 13 des vorher genannten Zusammenarbeitsabkommens vom 8. März 1994. Für Aufsehen sorgte diese Regelung u.a. im Rahmen der Billigung des CETA zwischen der Europäischen Union und Kanada durch das Parlament der Wallonischen Region. Siehe zum Beispiel M. Becker,Wallonen blockieren Handelsabkommen mit Kanada, Spiegel.de, 18. Juni 2016.

[21] Über die diplomatischen Aufgaben und Aktivitäten des Königs, siehe J. Stengers, L’action du Roi en Belgique depuis 1831: Pouvoir et influence, 3. Ausg., Brüssel, Racine, 2012, S. 259-283.

[22] C. Behrendt und M. Vrancken, Principes de droit constitutionnel belge, Brüssel, la Charte, 2019, S. 490 und 499-500. Über die Anerkennung von Staaten, unter anderem im belgischen Recht, siehe auch C. Behrendt und F. Bouhon, Introduction à la Théorie générale de l‘État – Manuel, 3. Ausg., Brüssel, Larcier, 2014, S. 96-99. Den Teilstaaten wird jedoch die Möglichkeit eingeräumt, Vertretungen im Ausland einzurichten. Siehe zum Beispiel hier im BelgienNet, C. Brüll, Belgien und Deutschland – eine kleine Beziehungsgeschichte (https://belgien.net/belgienunddeutschland-2/).

[23] X. Miny und M. Franssen, „‘To be, and not to be’ – La reconnaissance juridictionnelle de la Palestine“ (die genauen Referenzen der Studie werden im Laufe der nächsten Monate auf folgender Seite verfügbar sein: https://orbi.uliege.be/browse?type=author&value=Miny,%20Xavier%20p025498).

[24] Zusammenarbeitsabkommen vom 8. März 1994 zwischen dem Föderalstaat, den Gemeinschaften und den Regionen bezüglich der Vertretung des Königreichs Belgien im Ministerrat der Europäischen Union (B.S., 17. November 1994).

[25] C. Behrendt und M. Vrancken, Principes de droit constitutionnel belge, Brüssel, la Charte, 2019, S. 500.

[26] Über die Rolle des Königs als Befehlshaber der belgischen Armee, siehe J. Stengers, L’action du Roi en Belgique depuis 1831: Pouvoir et influence, 3. Ausg., Brüssel, Racine, 2012, S. 92-107.

[27] Siehe J. Stengers, Léopold III et le gouvernement : Les deux politiques belges de 1940, 2. Ausg., Brüssel, Racine, 2002. Über die Beziehungen zwischen Belgien und Deutschland, sowie Belgien und Frankreich im Kontext der beiden Weltkriege, siehe auch hier im BelgienNet, C. Brüll, Belgien und Deutschland – eine kleine Beziehungsgeschichte (https://belgien.net/belgienunddeutschland-2/) und C. Lanneau, Die französisch-belgischen Beziehungen (https://belgien.net/die-franzoesisch-belgischen-beziehungen/).

[28] Die offizielle Bezeichnung des Ausschusses ist folgende: „commission chargée d’émettre un avis motivé sur les principes constitutionnels relatifs à l’exercice des prérogatives du Roi et aux rapports des grands pouvoirs constitutionnels entre eux“ (frei übersetzt also der „Ausschuss mit dem Auftrag ein begründetes Gutachten über die verfassungsmäßigen Grundsätze bezüglich der Ausübung der Vorrechte des Königs sowie den Beziehungen zwischen den großen Verfassungsgewalten abzugeben“).

[29] C. Behrendt und M. Vrancken, Principes de droit constitutionnel belge, Brüssel, la Charte, 2019, S. 348-351.

[30] Siehe zur Unterscheidung und Erklärung der eminenten und effektiven Befehlsgewalt: C. Behrendt und M. Vrancken, Principes de droit constitutionnel belge, Brüssel, la Charte, 2019, S. 351-357.